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DIE SCHAMLOSEN
von Gert Heidenreich©2018     


Horst Seehofer, Matteo Salvini und Sebastian Kurz haben sich nach ihrem Beschluss, „die Mittelmeerroute für flüchtende Menschen zu schließen“, an Moses gewandt und ihn gebeten, für sie das mare nostrum zu teilen, weil sie dann im trockenen Graben zwischen den Meereshälften großzügig Nato-Stacheldraht ausrollen könnten; der Prophet hat sie donnernd mit dem Hinweis zurückgewiesen, sein göttlicher Auftrag sei es, Menschen aus der Knechtschaft zu führen, und nicht, sie zu Aberhunderten jämmerlich sterben zu lassen. Sie schämten sich...
Das ist nicht die Wahrheit. Wäre aber schön. Gibt es eigentlich, wenn schon keinen Stil, in der derzeitigen Politik von Ungarn bis Italien und Polen bis Deutschland noch so etwas wie Scham? Die Herren der neuen Unmenschlichkeit führen nicht nur eine Sprache im Mund, die bestürzend an die lingua tertii imperii erinnert (so, wenn Italiens Innenminister Salvini über die Mittelmeerflüchtlinge als „Menschenfleisch“ spricht und Markus Söder sie als Asyltouristen verhöhnt), sie handeln auch in einer Weise, die man noch vor einem halben Jahrzehnt in Europa für ausgeschlossen hielt. War nicht, bei allen gelegentlichen Irritationen, doch Verlass auf den unzerstörbaren Zusammenklang von Europäischem Frieden und Menschenrechten? Von Gemeinsinn und Mitmenschlichkeit über die Grenzen hinaus? Schien es uns nicht, als seien die bitteren Lehren aus der Preisgabe des Abendlandes durch die Nazis ein für allemal gezogen worden, nämlich jenes entschiedene „Nie wieder!“, das vermeintlich zeitloser Konsens wurde und für jegliche Zukunft die Absage an Chauvinismus und Despotie enthielt?
Nein. Wie in einem verblassenden Traum steht man ratlos da und fragt sich, was zu tun wäre, während das Menetekel an der Wand leuchtet. Vielleicht fühlten sich die Menschen seinerzeit ähnlich, am Ende der Zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts, vor dem absehbaren Niedergang von Vernunft und Anstand und dem sich ankündigenden Aufstieg der Verbrecher. Plötzlich empfindet man die eigenen Fragen an die damalige Generation als hochmütig, warum sie nicht rechtzeitig handelten, als es noch möglich war.   Was also tun? Wer könnte, sollte dieser Finsternis des Geistes entschieden Widerstand leisten? Alle, denen an einer menschenwürdigen Zukunft liegt. Parlamentarische Opposition aber, Verbände und Kirchen sind von einer unfassbaren rhetorischen und argumentativen Schwäche befallen, maulen herum statt zu offenem Disput zu schreiten, wie er dringend nötig wäre, um diejenigen zu ermutigen, die noch immer nicht glauben wollen, was da mit ihrem Europa geschieht –  dessen Humanität und Gedankenfreiheit, Friedfertigkeit und politische Umsicht mit zwei Weltkriegen erkauft worden waren, den entsetzlichsten Blutbädern der Geschichte, angerichtet von Rassismus, Größenwahn und Nationalismus. Was jetzt geschieht und gemeinhin mit dem Begriff Populismus beschönigt wird, ist ja nichts anderes als die Demontage der Grundpfeiler unserer in den letzten siebzig Jahren gewachsenen freiheitlich-demokratischen Zivilisation, innerhalb derer politische Disparitäten mehr oder minder besonnen, vor allem aber mit wechselseitigem Respekt festgestellt wurden. Jetzt missbrauchen demagogische Scharfmacher von Warschau über Budapest bis Ankara die Demokratie zum Zweck ihrer Beseitigung. Solche Vergewaltigung zielt auf die Eliminierung der zuvor gültigen Rechtsnormen und beginnt, wie immer, mit Zensur: Unbeobachtet und unkritisiert kann man eine Gesellschaft am leichtesten in die Unmündigkeit führen. In Europa geht es aber längst nicht mehr, wie noch beim Brexit, um die Frage, wie viel Lüge ein Staat sich leisten kann, ohne darin zu versinken. Es geht um eine Richtungsentscheidung für den Kontinent. Es geht um die Frage, ob das, was Europa geprägt hat und was ihm die Bewunderung der Welt eintrug – nämlich die geistige Befreiung aus den Ketten vererbter Macht und klerikaler Einschüchterung, die Überwindung historischer Ressentiments und die Verbindlichkeit der Menschenrechte – weiterhin gültig bleiben kann; oder ob wir in eine Phase der Gegenaufklärung schlittern, in der sich unter den Lippenbekenntnissen zu Demokratie und Europa eine Wirklichkeit aus Fremdenhass, Zynismus und zutiefst unchristlicher Erbarmungslosigkeit ausbreitet.
Die Leichtfertigkeit, mit der sogenannte Pragmatiker hierzulande bis dato unumstößliche Verfassungspositionen zwecks parteipolitischer Spekulation auf die Klientel von Rechtsaußen geräumt haben, ist ein Alarmzeichen: Man kennt aus der Geschichte die Anfälligkeit demokratischer Parteien, extremistische politische Kräfte zu umgarnen – in der Hoffnung, sie dadurch zu zähmen. Derart hochmütige Abenteuer erwiesen sich noch stets als Irrtum mit desaströsen Folgen. Fassungslos muss man zur Kenntnis nehmen, dass derselbe Weg erneut beschritten wird; wieder werden die fremdenfeindlichen Parolen der extremen Rechten kopiert, statt sie zu dekuvrieren und offensiv zu bekämpfen; und wieder stärkt es diese Kräfte,  sodass die AfD in Bayern wahrheitsgemäß ihren Wahlkampf gegen die CSU unter dem Slogan führt: „Wir sind das Original“. Offensichtlich trauen die verbliebenen demokratischen Parteien in Europa den eigenen Grundsätzen so wenig zu, dass sie wie das Kaninchen auf die Schlange starren, statt endlich entschlossen gegen die antidemokratischen Ideologen vorzugehen. Wie war das noch mit der „wehrhaften Demokratie“, als die BRD sich durch die Terroristen der RAF so bedroht fühlte, dass die Parlamentarier bis hart an die Grenzen der Verfassung gingen? Die Bedrohung, der sich Europa heute ausgesetzt sieht, ist unvergleichlich höher. Es ist keineswegs ausgeschlossen, eher wahrscheinlich, dass regierungsamtliche Volksverhetzung und Terror von rechts sich die Hand reichen werden. Man muss sich nur vorstellen, dass Emmanuel Macron in Frankreich nicht den Erfolg hat, den er braucht. Dann fiele das Land an den Front National (RN), der offene Hetze gegen Europa, generell gegen eine liberale Gesellschaft betreibt. Und welche „Achse der Willigen“ würde dann wohl errichtet zwischen Paris und Berlin, Rom, München und Wien? „Man muss auch den Mut zur Intoleranz denen gegenüber aufbringen, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen“, sagte Carlo Schmidt 1948 im Parlamentarischen Rat. Dafür muss man beherzt und besonnen aufstehen gegen die trügerischen Vereinfacher und bigotten Zyniker, die Unbarmherzigen, die Schamlosen, die Machtgierigen um jeden Preis. Wenn wir rechtzeitig handeln, schaffen wir das.

 
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