Horst Seehofer, Matteo Salvini und Sebastian
Kurz haben sich nach ihrem Beschluss, „die Mittelmeerroute für flüchtende
Menschen zu schließen“, an Moses gewandt und ihn gebeten, für sie das mare nostrum zu teilen, weil sie dann im
trockenen Graben zwischen den Meereshälften großzügig Nato-Stacheldraht ausrollen
könnten; der Prophet hat sie donnernd mit dem Hinweis zurückgewiesen, sein
göttlicher Auftrag sei es, Menschen aus der Knechtschaft zu führen, und nicht,
sie zu Aberhunderten jämmerlich sterben zu lassen. Sie schämten sich... Das ist
nicht die Wahrheit. Wäre aber schön.
Gibt es eigentlich, wenn schon
keinen Stil, in der derzeitigen Politik von Ungarn bis Italien und Polen bis
Deutschland noch so etwas wie Scham? Die Herren der neuen Unmenschlichkeit
führen nicht nur eine Sprache im Mund, die bestürzend an die lingua tertii imperii erinnert (so, wenn
Italiens Innenminister Salvini über die Mittelmeerflüchtlinge als
„Menschenfleisch“ spricht und Markus Söder sie als Asyltouristen verhöhnt), sie
handeln auch in einer Weise, die man noch vor einem halben Jahrzehnt in Europa
für ausgeschlossen hielt. War nicht, bei allen gelegentlichen Irritationen,
doch Verlass auf den unzerstörbaren Zusammenklang von Europäischem Frieden und
Menschenrechten? Von Gemeinsinn und Mitmenschlichkeit über die Grenzen hinaus? Schien
es uns nicht, als seien die bitteren Lehren aus der Preisgabe des Abendlandes
durch die Nazis ein für allemal gezogen worden, nämlich jenes entschiedene „Nie
wieder!“, das vermeintlich zeitloser Konsens wurde und für jegliche Zukunft die
Absage an Chauvinismus und Despotie enthielt? Nein. Wie in einem verblassenden
Traum steht man ratlos da und fragt sich, was zu tun wäre, während das
Menetekel an der Wand leuchtet. Vielleicht fühlten sich die Menschen seinerzeit
ähnlich, am Ende der Zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts, vor dem
absehbaren Niedergang von Vernunft und Anstand und dem sich ankündigenden Aufstieg
der Verbrecher. Plötzlich empfindet man die eigenen Fragen an die damalige
Generation als hochmütig, warum sie nicht rechtzeitig handelten, als es noch
möglich war.
Was also tun? Wer könnte, sollte dieser
Finsternis des Geistes entschieden Widerstand leisten? Alle, denen an einer
menschenwürdigen Zukunft liegt. Parlamentarische Opposition aber, Verbände und
Kirchen sind von einer unfassbaren rhetorischen und argumentativen Schwäche
befallen, maulen herum statt zu offenem Disput zu schreiten, wie er dringend
nötig wäre, um diejenigen zu ermutigen, die noch immer nicht glauben wollen,
was da mit ihrem Europa geschieht – dessen Humanität und Gedankenfreiheit, Friedfertigkeit und
politische Umsicht mit zwei Weltkriegen erkauft worden waren, den
entsetzlichsten Blutbädern der Geschichte, angerichtet von Rassismus,
Größenwahn und Nationalismus. Was jetzt geschieht und gemeinhin mit dem Begriff
Populismus beschönigt wird, ist ja nichts anderes als die Demontage der
Grundpfeiler unserer in den letzten siebzig Jahren gewachsenen
freiheitlich-demokratischen Zivilisation, innerhalb derer politische Disparitäten
mehr oder minder besonnen, vor allem aber mit wechselseitigem Respekt
festgestellt wurden. Jetzt missbrauchen demagogische Scharfmacher von Warschau
über Budapest bis Ankara die Demokratie zum Zweck ihrer Beseitigung. Solche
Vergewaltigung zielt auf die Eliminierung der zuvor gültigen Rechtsnormen und beginnt,
wie immer, mit Zensur: Unbeobachtet und unkritisiert kann man eine Gesellschaft
am leichtesten in die Unmündigkeit führen.
In Europa geht es aber längst
nicht mehr, wie noch beim Brexit, um die Frage, wie viel Lüge ein Staat sich
leisten kann, ohne darin zu versinken. Es geht um eine Richtungsentscheidung
für den Kontinent. Es geht um die Frage, ob das, was Europa geprägt hat und was
ihm die Bewunderung der Welt eintrug – nämlich die geistige Befreiung aus den
Ketten vererbter Macht und klerikaler Einschüchterung, die Überwindung
historischer Ressentiments und die Verbindlichkeit der Menschenrechte –
weiterhin gültig bleiben kann; oder ob wir in eine Phase der Gegenaufklärung schlittern,
in der sich unter den Lippenbekenntnissen zu Demokratie und Europa eine
Wirklichkeit aus Fremdenhass, Zynismus und zutiefst unchristlicher Erbarmungslosigkeit
ausbreitet. Die Leichtfertigkeit, mit der sogenannte Pragmatiker hierzulande bis
dato unumstößliche Verfassungspositionen zwecks parteipolitischer Spekulation auf
die Klientel von Rechtsaußen geräumt haben, ist ein Alarmzeichen: Man kennt aus
der Geschichte die Anfälligkeit demokratischer Parteien, extremistische politische
Kräfte zu umgarnen – in der Hoffnung, sie dadurch zu zähmen. Derart hochmütige
Abenteuer erwiesen sich noch stets als Irrtum mit desaströsen Folgen. Fassungslos
muss man zur Kenntnis nehmen, dass derselbe Weg erneut beschritten wird; wieder
werden die fremdenfeindlichen Parolen der extremen Rechten kopiert, statt sie
zu dekuvrieren und offensiv zu bekämpfen; und wieder stärkt es diese Kräfte, sodass die AfD in Bayern wahrheitsgemäß
ihren Wahlkampf gegen die CSU unter dem Slogan führt: „Wir sind das Original“.
Offensichtlich trauen die verbliebenen demokratischen Parteien in Europa den
eigenen Grundsätzen so wenig zu, dass sie wie das Kaninchen auf die Schlange
starren, statt endlich entschlossen gegen die antidemokratischen Ideologen
vorzugehen. Wie war das noch mit der „wehrhaften Demokratie“, als die BRD sich
durch die Terroristen der RAF so bedroht fühlte, dass die Parlamentarier bis hart
an die Grenzen der Verfassung gingen? Die Bedrohung, der sich Europa heute
ausgesetzt sieht, ist unvergleichlich höher. Es ist keineswegs ausgeschlossen, eher
wahrscheinlich, dass regierungsamtliche Volksverhetzung und Terror von rechts
sich die Hand reichen werden. Man muss sich nur vorstellen, dass Emmanuel Macron
in Frankreich nicht den Erfolg hat, den er braucht. Dann fiele das Land an den
Front National (RN), der offene Hetze gegen Europa, generell gegen eine
liberale Gesellschaft betreibt. Und welche „Achse der Willigen“ würde dann wohl
errichtet zwischen Paris und Berlin, Rom, München und Wien? „Man muss auch den Mut zur
Intoleranz denen gegenüber aufbringen, die die Demokratie gebrauchen wollen, um
sie umzubringen“, sagte Carlo Schmidt 1948 im Parlamentarischen Rat. Dafür muss
man beherzt und besonnen aufstehen gegen die trügerischen Vereinfacher und
bigotten Zyniker, die Unbarmherzigen, die Schamlosen, die Machtgierigen um
jeden Preis. Wenn wir rechtzeitig
handeln, schaffen wir das.