Gert Heidenreich
DIE WIEDERKEHR DER NASHÖRNER Vernunft
in fanatischer Zeit
Die Demokratie ist eine riskante
Einrichtung: Das Mehrheitsprinzip legitimiert auch dümmste Beschlüsse, und wenn
eine Nation – wie 2016 die stolzen Briten – ihr Schicksal auf dem Niveau ihrer
Boulevardzeitungen entscheidet, kommt das Entsetzen darüber, dass fanatische
Unvernunft die Oberhand über Aufklärung und Besonnenheit gewann, zu spät. Das
Kind ist im Brunnen, das Volk hat es so gewollt.
Solche demokratisch herbeigeführten
Katastrophen sind durch mangelnde oder irreführende Unterrichtung allein nicht
zu erklären, sondern deuten auf ein lebensgefährliches Bildungsproblem.
Betroffen davon ist freilich nicht nur Großbritannien.
Wenn ich von Bildung spreche, dann nicht von
Information, nicht von Kenntnissen, nicht von Sachverstand und schon gar nicht
von outgesorctem Expertentum in den Lagerhallen des Internet.
Bildung ist die Verwandlung von Wissen in
Bewusstsein. Wer sie erwerben kann, trägt Verantwortung dafür, dass er nach ihr
auch lebt und handelt.
Meine Generation hat in ihrem jugendlichen
Protest 1968 die bürgerliche Bildung geschmäht, weil sie den Naziterror nicht
verhindert habe. Doch es war nicht die Bildung, die versagt hat – es waren die
Gebildeten, die ihre Bildung preisgaben und verrieten – ein an Selbstverachtung
kaum zu überbietender Vorgang. So entsteht, was der erfolgreichste Autor des
Absurden Theaters, Eugène Ionesco, Rhinozeritis
nannte. Ein Massenphänomen. Menschen verwandeln sich in Rhinozerosse, und je mehr
es von ihnen gibt, um so mehr wollen ihnen gleich sein. Es geht um Herdentrieb,
um Mitläufer oder – neuerdings das Optimum öffentlichen Erfolgs – um Follower. Ionescos Stück Die Nashörner kam 1959 heraus, und ich
erinnere mich – selbst drei Jahre vor dem Abitur – daran, wie gut es in das
langsam sich konturierende Weltbild passte: Wir hatten Biedermann und die Brandstifter von Max Frisch gelesen, begannen
mit der Antigone des Sophokles,
hatten schon Günter Eichs Warnung Betrachtet
die Fingerspitzen! Wenn sie sich schwarz färben, ist es zu spät[i]als Auftrag verstanden, Sand, nicht Öl im Getriebe der Welt[ii]zu sein, und hörten nun bei Ionesco,
was der sich auf der Bühne in ein Nashorn verwandelnde Hans seinem standhaften Freund Behringer zuruft: Es gefällt mir ein Menschenfeind zu sein!
Das Humane ist überholt! Sie sind ein alter, lächerlicher Schwärmer.[iii]
So, als lächerlicher Schwärmer, kann man
sich derzeit fühlen, wenn man die Lage in den USA und in Europa mit Sorge betrachtet
und sieht, wie die Rhinozeritis wiederkehrt.
Nashörner sehen schlecht, was auch im
übertragenen Sinn gilt, und da in unserem Kulturraum das Sehen und das Wissen
in ihrem indoeuropäischen Wort-Ursprung identisch sind, führt beschränkte Sicht
zu ebensolcher Vorstellung von der Welt. Man nennt die stampfende Bewegung, die
sich damit ausbreitet, schönfärbend Rechtspopulismus,
als handele es sich um eine politische Spielart unter anderen. Es ist aber, genau
betrachtet, sehr viel mehr. Es ist wahrscheinlich Beginn und Zeichen einer
Gegenaufklärung, zu deren Eindämmung uns offenbar noch die Redner und die Konzepte
fehlen – zumal mancher unserer Modephilosophen mit ihr liebäugelt, statt ihr
öffentlich entgegenzudenken.
Noch vor zwei Jahren war mehr Anlass für
Zuversicht.
Ich meine jenen Augenblick in der Geschichte
unseres Landes, der es wert ist, in die Annalen einzugehen als deutsche
Rarität. In jenem Augenblick schien es, als legte diese Nation ihre offizielle Maske
ab, und darunter käme nicht die durch die eigene Geschichte erworbene Fratze
zum Vorschein, sondern ein geheiltes Gesicht, in dessen Zügen sich Vernunft und
Wohltat abzeichneten. Es war dies der 30. August 2015, an dem Angela Merkel in
ihrer jährlichen Sommerpressekonferenz den verängstigten, bedrohten und
verelendeten Flüchtlingen die deutsche Tür öffnete und ihren Landsleuten
versicherte: Wir schaffen das.
Selbstverständlich war dieser Satz, obgleich
als Feststellung formuliert, ein Konjunktiv, genau gesagt, ein Optativ.
Selbstverständlich stand er nicht als Tatsache, sondern als zur Gewissheit
verkleidete Hoffnung im Raum. Selbstverständlich war er eine vorweg genommene
Utopie als Auftrag.
Viele sind ihm gefolgt. Ihretwegen geriet
das Wort Willkommenskultur in die
Schlagzeilen, mit der Folge, dass unser Land mit einem Mal als stupor mundi, als Staunen der Welt, betrachtet wurde: eben noch in der
Griechenlandkrise als Europas Feldwebel karikiert – nun plötzlich eine Nation
aus Samaritern?
Doch Teile der politischen Klasse, die sich
gern an die Erfolge der Bundeskanzlerin gehängt hatte, bogen panisch ab auf
andere Pfade – die einen still und heimlich, die anderen mit lautem Gemaule –,
als wäre Goethes Mephisto auf den Plan getreten und hätte konstatiert: Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage; / Weh
dir, dass du ein Enkel bist![iv]
Die Kanzlerin sah hinter sich die
versammelte Leere und vor sich ein Verwaltungschaos, mit dem sie nicht rechnen musste
– gelten die Deutschen doch als Weltmeister für Bürokratie und Organisation.
Man konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass manche von Merkels Scheinfreunden
bewusst unter dem Niveau der verfügbaren Ordnungsmöglichkeiten blieben, um aus
der geplanten Planlosigkeit Angst und Unzufriedenheit keimen zu sehen. Prompt
plusterten sich dilettierende Sinnstifter als eine Alternative für Deutschland
auf, und ein merkwürdiges Amalgam von Angstbürger und Wutbürger bezog die
Straßen, getrieben von Gerüchten, gefälschten Informationen, Massenlust, dem
Ärger über zu wenig Lebensglück und dem Drang, sich zu beflaggen, und forderte
sein Prädikat als das ‚wahre Volk’ ein. Drei Monate genügten, um die kürzeste
und beste Rede von Angela Merkel in einen Fluch zu verwandeln. Und mancher, der
kräftig daran mitgewirkt hatte, wollte am Ende immer schon gewusst haben, dass
die Berliner Politik scheitern musste.
Dass Nazibanden die auflebende Xenophobie
nutzen, um nach SA-Manier Terror zu verbreiten, war vorauszusehen; nicht
jedoch, mit welch unfassbarer Nachlässigkeit die Exekutive ihnen begegnet,
während sie den demokratischen Widerstand gegen sie akribisch beobachtet.
Schlimmer noch die Fälle klammheimlich praktizierter Sympathie derer, denen der
Schutz der Republik anvertraut ist, für jene, deren erklärtes Ziel die
Zerstörung der Republik ist. Es gehört wieder Mut dazu, den Neonationalsozialisten
Einhalt zu gebieten, und sollte doch schlicht selbstverständlich und aller
Unterstützung wert sein.
Man kann die Entwicklung als periphere
Zeiterscheinung abtun und die Besorgnis darüber als Alarmismus denunzieren.
Solche Selbstberuhigung funktioniert nur in sehr eingeschränktem Gesichtsfeld.
Die Phänomene tauchen jedoch aus einer seit Jahren angerührten Suppe auf,
zubereitet von sorglosen Köchen, die sich vielleicht nicht bewusst waren, dass
die Zutaten – einzeln noch halbwegs verdaulich – sich zu einem hoch explosiven
Gericht verbinden.
Die Rezeptur ist keineswegs geheim: Dem
längst amoralischen Gefälle zwischen Reichtum und Armut steht die
finanzpolitische Begünstigung grenzenloser Geldgier zur Seite; die von solcher
Gier verschuldeten Bankenverluste werden auf den Staatshaushalt, die Bürger
also, umgeschrieben. Der Amtseid für die Staatslenkung verlangt wörtlich, Gerechtigkeit gegen jedermann zu üben;
aber der Eid ist ja ohnehin kaum mehr etwas wert, seit ein Kanzler ungestraft
das Recht brechen durfte und ein Ministerpräsident seine schwarzen Parteikassen
in jüdische Vermächtnisse umetikettieren
ließ, um sich vor der Justiz in den Schatten des Holocaust wegzuducken.
So zersetzt man einen Staat von oben.
Kann eine Gesellschaft auf Dauer aushalten,
dass Abfindungssummen für Spitzenversager den Lebensverdienst von Facharbeitern
um das Vielfache überschreiten? Kann man ernstlich glauben, dass die
Demaskierung unseres Landes als Biotop für Steuerbetrüger, illegale
Waffenverkäufer, privilegierte Fußball-Gauner und Auto-Fälscher keine Wirkung
auf die Akzeptanz demokratischer Wertvorstellungen hat? Wer über das verlorene
Ansehen der politischen und wirtschaftlichen Klasse jammert, sollte nicht
verschweigen, dass etliche ihrer Protagonisten es selbstherrlich verspielt
haben und dies weiterhin tun. Wird der Verfall sittlicher Grundbedingungen
klammheimlich hin genommen, führen Frustrationseffekte bei den einen zu Resignation,
den anderen zu Empörung – für beide öffnen Populisten aller Couleur und fanatische
Imame ihre Arme und legen der Jugend vergiftete Leimruten aus.
Wenn für junge Menschen pseudoreligiös
motivierte Gewalt attraktiv wird, wenn sie den vorgestrigen Heilsversprechen
illiberaler Phrasendrescher vertrauen, dann haben wir in unserer Gesellschaft
etwas gründlich falsch gemacht. Wir haben diese Jugendlichen nicht immunisiert
gegen ein Denken in Ressentiments, das für die Jenseitsversprechen der
Islamisten wie für die Propaganda der neuen Rechten konstitutiv ist. Wir haben
ihnen nicht die Chance gegeben, sich die Lebens-Werte der Aufklärung zueigen zu
machen. Wir haben ihnen die Rente gestohlen, aber ihnen keine Gegenwarts-Hoffnung
dafür gegeben.
Manchmal wundere ich mich, wie ruhig diese
Jugend ist. Wo bleibt die Einforderung ihrer Lebenschancen? Hat sie den
Eindruck, ein Aufschrei sei sinnlos angesichts des fundamentalen Kapitalismus?
Oder ist die Masse der Probleme zu unübersichtlich? Hat die Schule sie – unter
dem Vorwand, sie fit zu machen für unsere Gesellschaft – zu
wirtschaftskonformen Materialisten konditioniert? Haben wir ihnen Ausbildung
zukommen lassen und Bildung vorenthalten?
Für einen wie mich, in dessen jungen Jahren
noch nicht einmal der Kopierer erfunden war – für einen homo prae-Xerox also – sind die heutigen Möglichkeiten, sich auszutauschen
und weltweit Fragen zu diskutieren, phantastisch. Was folgt aus den vielen lebendigen
Blogs und den dort geführten polyglotten Dialogen? Diese Jugend, so ist da
abzulesen, ist intelligent, kreativ, analytisch, gut informiert und global vernetzt.
Sie hat 2010 Stéphane Hessels Aufruf Indignez-vous!
– Empört euch! – gelesen und für gut
befunden.
Und sie ist ruhig geblieben. Es scheint so,
als genüge ihr die Beschwerde; als reiche es, Unzufriedenheit zu formulieren.
Aber jede Gesellschaft entwickelt sich gemäß den konkreten Entscheidungen ihrer
Apparate. Und die laufen nicht nur am Bosporus, auch bei einigen unserer
europäischen Nachbarn, darauf hinaus, die Demokratie mit ihren eigenen Mitteln
zu paralysieren oder abzuschaffen. Längst wurden in Ungarn und Polen die
Unabhängigkeit der Gerichte und das Recht auf freie Meinung beschnitten. Wer
die Freiheit des Wortes außer Kraft setzt, tut dies immer, um anschließend
ungestört weitere Freiheiten zu beseitigen. Wo bleibt der Alarm, wenn mittels
ruinöser Ideologien die kostbarsten Errungenschaften der Aufklärung vernichtet
werden? Haben wir kein Sensorium mehr für die hoffnungsreiche Vorstellung vom
mündigen Menschen, keine Sehnsucht nach ihm? Sind uns die gewohnten Freiheiten
unerträglich leicht geworden, so dass am Ende ihrer Selbstverständlichkeit die
Sehnsucht nach ihrer Revision hervortritt? Ist das die Stunde der Nashörner?
Ultima ratio: irratio ultima? Gelten
Diderot und Voltaire, Kant, Moses Mendelsohn und Lessing künftig als
gutgläubige Einfaltspinsel?
So leicht sollten wir uns nicht geschlagen
geben. Die neue uralte Rechte und die Identitären schüren nationale Egoismen
und Fremdenangst, indem sie von deutscher Identität und von der Rettung des
Abendlandes schwafeln. Wenn sie denn wüssten, was das ist, die Kulturalität des
Okzidents. Genuin deutsch ja nun nicht. Der Begriff lässt sich beliebig
instrumentalisieren, die Nazipropaganda nannte das Abendland Bollwerk gegen den Osten und noch in den
Fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurde es von deutschen Revanchisten
vereinnahmt. Auch die Begriffe Identität
und deutsche Werte sind für die
Hetzredner lediglich gegenstandslose Phrasen, um jenen Gemeinsinn zu erzeugen,
der aus Individuen eine Masse macht. Jedem in dieser Masse wird durch die
Parolen eine Selbstgewissheit suggeriert, die sich aus gemeinschaftlich
erfahrener Stärke speist. Darum jubelt er den Worthülsen reflexhaft zu.
Stimmung erzeugt Zustimmung, und schon wächst das Gefühl, an der Spitze des
Fortschritts zu stehen, während man sich vorwärts zu Karl dem Großen bewegt.
Thomas Mann nannte das Phänomen bereits 1924 Geistige Rückneigung.[v] Ein mentaler
Bereinigungszwang will nun alles eliminieren, was im Weg steht: die Achtundsechziger,
die ’Lügenpresse’, Berlin, Europa, offene Grenzen. So rhinozeritisch verlief
auch die britische Brexit-Kampagne,
vor deren Konsequenzen ihre verlogenen Verursacher dann das Hasenpanier ergriffen
– denn der härteste Prüfstein der Lügen ist ihr Erfolg.
Ionescos Held Behringer, der letzte Mensch, monologisiert am Ende,
als alle außer ihm Nashörner geworden sind: Es
gibt keine andere Lösung, als sie zu überzeugen. (...) Und sind diese
Verwandlungen denn rückgängig zu machen?[vi]
Wenn wir die Frage nicht mehr mit Ja
beantworten können oder wollen, haben wir das unvollendete Projekt der Moderne[vii],
wie es Jürgen Habermas nennt und uns zur radikalen Vollendung empfiehlt,
aufgegeben – und mit ihm auch Lessings Zukunftsvision von einem Christentum der Vernunft, in dem der
künftige Mensch gut handelt, nicht weil er sich davon eine Belohnung im
Diesseits oder Jenseits verspricht, sondern weil seine Vernunft ihm sagt, dass
es richtig ist, gut zu handeln.[viii]
Die damit verknüpfte Frage der Erkenntnis und der Fähigkeit zur individuellen
Entscheidung führt direkt zu den Grundsätzen von Pädagogik und Bildung.
Erziehung muss jungen Menschen die Chance
geben, ein reflektiertes Bewusstsein für ihren Platz in der gegenwärtigen Welt
zu entwickeln. Bildung muss sie instand setzen, Lebensangebote und
Zukunftsentwürfe kritisch zu beurteilen, und sollte ihren jugendlichen
Gerechtigkeitssinn, ihre Begeisterungsfähigkeit und ihre Lust an
Lebensphantasien in einen unvoreingenommenen Diskurs führen, der die Erfahrungen
der Geschichte einbezieht.
Dass ich in einem solchen Projekt dem
Literaturunterricht den Vorrang einräume, wird nicht verwundern – doch nicht,
um pro domo zu reden und Schillers Maxime zu folgen, dass der Mensch nur durch
Schönheit zur Freiheit gelangen könne, sondern weil die Literatur – und
ausschließlich sie – die gesamte Erfahrung der Menschheit mit sich selbst
beinhaltet. Seit den Anfängen des Erzählens sind alle Konflikte, Höhen und
Tiefen des Lebens, alles Siegen und Scheitern, alle Trauer und aller Jubel,
alle Gemeinheit und Güte, alle Melancholie, Not und Erlösung in der
Weltliteratur aufgehoben. Diesen unerschöpflichen Erlebnisvorrat, dieses
Reservoir an existentieller Unterrichtung nicht für die Pädagogik zu nutzen,
können wir uns gar nicht leisten. Grundsätzlich wird in der kulturellen
Zwischenwelt[ix]
der Literatur mögliche Realität antizipiert und die Begegnung mit ihr gleichsam
trainiert, ohne zugleich konkrete Folgen gewärtigen zu müssen.
Kein Erziehungs-Imperativ, kein
Verhaltens-Katechismus schult die sozial-emotionalen Kompetenzen junger
Menschen so gut wie die innere Beteiligung am Schicksal erzählter Figuren. Die
empfundene und rational durchlebte Konfliktsimulation beim Lesen literarischer
Werken war und ist eine durch nichts zu ersetzende Lebensschulung. Solche
Antizipation hilft ebenso bei der späteren Bewältigung eigener Probleme wie bei
der Entwicklung autonomer Perspektiven. Lernen gelingt nicht ohne Emotion – die
moderne Neurobiologie weist es nach.[x] Das
intensive Lesen von Literatur, die Identifikation mit ihren Gestalten, hat
folglich auf lange Sicht nicht nur Vorteile für den Lesenden, sondern für die
ganze Gesellschaft. Ich spreche dabei, wie gesagt, noch nicht von Kunst – die
freilich die ethischen Fragen erst ästhetisch erlebbar macht. Sich emotional
auf Antigone und ihren Konflikt zwischen Gesetz und Gewissen einzulassen;
Nathans Vision nachzuerleben, der die
Menschlichkeit der Religion überordnet, ist eben etwas ganz anderes, als diese
Fragen dem theoretisierenden Ethikunterricht zu überlassen und im Fach Deutsch
anstelle des dringend nötigen Literaturunterrichts Pseudogermanistik zu treiben.
Wer den Schülern keine literarische Vor-Erfahrung der unvermeidlich auf sie
zukommenden Konflikte und Dramen ermöglicht, entlässt sie am Ende gleichsam
einbeinig ins Leben – aber es gibt ja an jeder Ecke dieser Gesellschaft Krücken.
Was nötig ist für ein gelingendes Leben, gar Lebensglück, und was einem jungen
Menschen ermöglicht, Demokratie zu schätzen und in ihr zu leben, lernt man nun
einmal nicht in Mathematik.
In der Schule entscheidet sich, ob die
Gegenaufklärung erfolgreich sein wird oder nicht. Dabei geht es nicht um mögliche
Varianten der demokratischen Gesellschaft, die man liberal und tolerant auf
sich zukommen lassen könnte. Es geht um den Bestand von zivilisierten Bedingungen,
die möglichst für alle ein menschenwürdiges Leben erlauben. Es geht um die
Verhinderung von Barbarei. Es geht um die Gewissheit, dass das Unglück des
Fremden mein eigenes Glück vermindert. Es geht um die Erkenntnis, dass es
keinen sicheren Strand gibt, von dem aus die einen den Untergang der anderen
draußen auf See beobachten könnten – sondern nur die See und das eine
gemeinsame schwankende Boot.
Die Gegenaufklärer behaupten, es gäbe
sichere Inseln, eingezäunte Ufer. Sie behaupten, Stacheldraht und Mauern seien
die richtige Antwort auf die Flucht der fernen Menschen vor ihrer Not.
Gegenaufklärung verspricht die feste Burg mit Wall und Graben und verschweigt,
dass diese Idee seit mindestens hundert Jahren eine Ruine ist. Aber in ihr
treffen sich unverabredet, doch eines schlichten Geistes, Viktor Orbán und
Wladimir Putin, Recep Tayyip Erdogan, Jaroslaw Kaczynski, Donald Trump und
etliche andere Weltverschlechterer. Sie alle eint die Verwechslung von Patriotismus
mit Nationalismus, eine mehr oder minder offene Bekämpfung demokratischer Grundrechte
und die Feindseligkeit gegenüber Minderheiten, die vom rechten Terror als
Handlungs-Auftrag verstanden wird. Sie alle reden von Völkerfreundschaft und
meinen Abschottung, sie alle verachten Europa, weil es in ihren geistigen
Schrebergärten nicht Platz hat.
Jeder weiß, dass die Programme der neuen
Rechten ökonomisch irrsinnig sind. Aber Warnungen davor halfen den armen Briten
nicht. Sie stritten um die falschen Ziele: Wir müssen nicht um materiellen, wir
müssen um geistigen Wohlstand
kämpfen.
Es geht nicht um Dividenden, es geht um das,
was Europa stark gemacht hat. Das war nicht die überlegene Gewalt, mit der die
europäischen Nationen große Teile der Welt erobert und wieder verloren haben,
und für die sie bis heute heimlich oder offen gehasst werden. Das war – und dafür wird Europa bewundert – die geistige Befreiung aus den Ketten vererbter Macht
und klerikaler Einschüchterung: die Idee des Citoyen, des gebildeten,
entscheidungsfähigen Bürgers. Europa ist Aufklärung. Wenn wir es der
Gegenaufklärung überlassen, wird es uns unter den Händen zu Nichts zerfallen.
Doch diese Dystopie will ich nicht ausmalen.
Vielmehr will ich Gotthold Ephraim Lessing über fast zweieinhalb Jahrhunderte
hinweg zurufen: Wir schaffen das!
[i] Günter Eich: Untergrundbahn,
Hamburg, Heinrich Ellermann, 1949
[ii] Günter Eich: Hörspielzyklus Träume. Frankfurt, Suhrkamp, 1953.
Erstsendung nwdr, 19.4.1951
[iii] Eugène Ionesco, Werke, hg.
von François Bondy, Bd. 2, S.290, 295.
München, Bertelsmann, 1985
[iv] Goethe, Faust I,
Studierzimmer. Mephisto und Schüler
[v] Thomas Mann, Der Zauberberg
[vi] Ionesco, Werke, a.a.O., S.
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[vii] Jürgen Habermas: Kleine politische Schriften I–IV, Suhrkamp, Frankfurt
am Main 1981, S. 444 ff.
[viii] G.E. Lessing: Die Erziehung des Menschengeschlechts, Berlin
1780
[ix] Karl Eibl: Kultur als
Zwischenwelt. Eine evolutionsbiologische Perspektive, Frankfurt, Suhrkamp 2009.
edition unseld 20
[x] Gerhard Roth: Bildung
braucht Persönlichkeit. Wie Lernen gelingt, Stuttgart, Klett-Cotta, 2011