Warum eigentlich glauben Schriftsteller unbeirrt daran, daß die Menschen und ihre Lage in der Welt durch Worte zu ändern seien, und daß es nur darauf ankomme, die richtigen Worte zu finden, die überzeugenden, die zu Herzen gehenden, die Worte, die uns so ergreifen und ermutigen, wie Rainer Maria Rilke vom Torso des Delphischen Apoll ergriffen wurde, nach dessen Anblick er sich sagte: „Du mußt dein Leben ändern!“ Warum sind wir in sämtlichen Kulturen so beharrlich wortgläubig, so unbelehrbar von der Wirklichkeit, die nun einmal, das zeigt der tägliche Blick auf die Nachrichten, den Worten nicht folgt – seien sie noch so klar und ergreifend, noch so überzeugend gewählt, seien sie noch so klug gewogen? Die Antwort ist einfach. Wir, die wir mit den und von den Wörtern leben, gründen unsere Hoffnung auf die Sprache: die Hoffnung für uns selbst und für unsere Mitmenschen. Das wird manchem naiv vorkommen, der im Namen seines Propheten lieber köpft als betet. Darüber werden viele lachen, die sich ein Gespräch nur als Verhör vorstellen können und Kindern nicht Schreiben und Lesen, sondern Schießen und Töten beibringen. Niemals, so scheint es, ist das Wort so ohne Macht gewesen wie heute, wo es in der Bilderwelt untergeht. Der Zusammenhang zwischen der ungeheuren Brutalisierung aller politischen oder scheinbar religiösen Auseinandersetzungen einerseits und der zunehmenden Einengung der Kommunikation auf Bilder andererseits fällt offenbar bisher nicht auf. Der Umstand, daß Bildungslosigkeit in erster Linie Wortlosigkeit ist und zugleich anfällig macht für die Einfalt der Tat, die unsere Gegenwart überzieht wie ein Feldzug des Todes – getarnt als Krieg für Freiheit, Krieg für Demokratie, Krieg für Propheten und Götter – scheint in den politischen Überlegungen auch friedlicher Regierungen keine Rolle zu spielen. Unter dem Lamento über Pisa-Studien geht unverändert die Banalisierung des Alltags, die Marginalisierung der Bildung, die Präferenz äußerer Wohlstandswahrung vor der Förderung geistigen Wohlstands weiter. Es sieht nach Absicht, ja Programm aus: Daß in den USA kein Krieg gegen den unfaßbar hohen Analphabetismus im Land geführt wird, macht die äußeren Kriege um so leichter führbar; daß, je nach Weltgegend, Bibel oder Koran in Fragen von Lebenserklärung und Lebensführung für ausschließlich verbindlich erklärt werden, sperrt die Köpfe für widersprechende, gleichwohl in unserer Welt notwendige Erkenntnisse. Indoktrination, Ideologisierung, religiöse Gedankenunterwerfung sind monologische Gebrauchsformen der Sprachen, letztlich reduzieren sie Sätze auf Befehle und das Denken auf Hörigkeit. Nimmt man alle mörderischen Vorfälle auch nur eines Tages zusammen, die weltweit in die Nachrichten kommen, wird man einen globalen Krieg gegen Vernunft und Humanität, gegen Sittlichkeit und Gewissen erkennen. Von Sinnen müssen junge Menschen sein, die sich selbst in die Luft sprengen, um andere mit in den Tod zu reißen. Wie im Rausch, und tatsächlich unter Drogen gesetzt, töten Kinder, die dem Rückstoß ihrer Maschinenpistole kaum standhalten können. All dies ist – meist unter dem Logo von Freiheitskampf zynisch verherrlicht – nur möglich durch die radikale Vernichtung von Dialog und Nachdenklichkeit. Schriftsteller sind nachdenkliche Leute. Sie sind keine klügeren, schon gar nicht bessere Menschen als andere in anderen Berufen. Sie haben nur eine unverbrüchliche Gewißheit: Wenn Sprache nicht Achtung vor dem Leben ist, ist sie nicht Sprache, sondern nur einer Verleitungstechnik zum jeweils erwünschten Handeln. Aus dieser Gewißheit folgern sehr viele Schriftsteller, daß sie und ihr Werk verpflichtet sind, vielfältig und in ästhetischer Freiheit der Humanität zu dienen. Albert Camus meinte eben das, als er 1957 in seiner Nobelpreisrede sagte, wir seien „auf die Galeere verpflichtet“, ganz gleich, ob uns dies paßt oder nicht. Dabei sei nicht verkannt, daß es System-Verherrlicher und affirmative Zerstreuungsliteraten gibt, Sprachknechte im Dienst von Diktaturen und Ablenker von der Wirklichkeit – auch sie beweisen ja auf ihre Art den Glauben an die Wirkung von Literatur. Wer sich bemüht, seine Zeit zu deuten und über sie hinaus für die brüchige Existenz des Menschen Bilder zu finden, die Nachdenken und Aufruhr, Widerspruch und Trost, Erlösung und Trauer verursachen, weiß, daß die alte Menschheits-Metpaher „Schiffbruch mit Zuschauer“ nicht nur falsch ist, sondern in den Untergang führt. Wir können, besonders als Handwerker der Sprache, nicht so tun, als stünden wir am sicheren Strand und dürften unbeteiligt zusehen, wie draußen auf See das Schiff in Seenot gerät und vielleicht kentert. Schriftsteller sind schon dadurch, daß sie ja die Geschichten der Menschen auf dem Schiff erzählen, nicht leicht in der Gefahr, den trügerischen Strand für wahr zu halten. Man ist immer mit seinen Figuren gemeinsam an Deck. Politisch führt das dazu, daß viele Autorinnen und Autoren die Verpflichtung spüren, sich um den Kurs zu sorgen. Hier greift die Schiffsmetapher auf die Menschheit, die Erde aus: Literatur als Versuch, dafür Sorge zu tragen, daß der Kurs nicht, zum Nachteil aller, auf die letzte Untiefe zuführt. Wie wir das tun, ist eine literarische Frage. Daß wir Zeitzeugen sind und mit unserem sprachlichen Vermögen einschreiten sollten, wo wir das Bild des Menschen verletzt, beschädigt sehen, ist – wie bei allen – eine Frage des Gewissens. Wird es preisgegeben, übergangen, für irrelevant erklärt, wird auch Hoffnung preisgegeben, übergangen und für irrelevant erklärt. „Von Dichtern erwarten wir Wahrheit“, sagte Hannah Arendt. Das ist hoch gegriffen. Zumindest aber Wahrhaftigkeit muß von Schriftstellern eingefordert werden. Die zwei großen Themen der Literatur – Liebe und Tod – ergaben sich stets aus der Bedeutung, die sie für das Leben der Menschen haben. Was für Zeiten aber, in denen sich der Tod so monströs in den Vordergrund schiebt... Die Tragödie des afrikanischen Kontinents und vieler seiner Völker, die unter dem kriminellen Machtwahn blutrünstiger Diktatoren leiden, die zynischen und kriminellen Kolonialkriege der USA und Russlands; die Mordlust und Selbstmordlust der Islamisten, die sich gottgefällig nennt; paranoide Dummköpfe, die Atomwaffen besitzen oder besitzen wollen; die Reihe der Gehirnkatastrophen mit ihren elenden Folgen läßt sich fortsetzen. Der zunehmende Zerfall der Welt in Zehntausende unvorstellbar Reiche und Milliarden unvorstellbar Arme wird von vielen Autoren nicht nur als Skandal, sondern als unerträglich empfunden. Die Arroganz der Macht, die Selbstgefälligkeit des Reichtums – schon immer waren dies Themen, die weltweit Schriftsteller zur Stellungnahme herausgefordert haben. Diese Seite der Welt ist kein von uns frei gewähltes Sujet, manch einer säße lieber im Elfenbeinturm und schriebe Reflexionen über den Rauch seiner Zigarette. Ein solcher Wunsch ist nicht unangemessen für die Literatur selbst. Doch angesichts der Realität, in der wir Autoren leben, wird er obszön. Flaubert schrieb dazu an Turgenjew: „Ich habe immer versucht, in einem Elfenbeinturm zu wohnen. Doch eine Flut von Scheiße schlägt an seine Mauern, so daß sie einzustürzen drohen.“ Betrachtet man das Bild genau, entdeckt man in ihm den Elfenbeinturm als Leuchtturm, bedroht zwar, aber standhaft in den Fluten. Vielleicht ist die von Flaubert metaphorisch unterstellte Erleuchtung durch Literatur eine allzu kühne Vermutung; vor allem die damit verbundene Behauptung, durch die Literatur könnten Kapitäne erfolgreich vor dem Untergang gewarnt und ihr Schiff gerettet werden, das Schiff Menschheit gar. Daß allein der Bericht von den Schlachthäusern der Welt, den mutiger Journalismus leistet, Abschreckung genug hinterlassen würde, um die Lage zu bessern, hat sich als trügerische Hoffnung erwiesen. Es bedarf offenbar stärkerer Einmischung. Das, was Patrice Nganang die „Teleologie der Gewalt“ nennt, kann nicht durch bloße Darstellung gemindert oder gar aufgehalten werden. Autoren sind mit ihren Fähigkeiten zu mehr verpflichtet: Tod und Liebe zu erzählen, heißt auch, Möglichkeiten unserer Existenz zu bebildern, um sie in der Phantasie der Leser weiterleben zu lassen. Jeder angestoßene innere Diskurs des Individuums hat letztlich auch politische Wirkung. Regierungen und Interessen-Kontrolleure wissen das offenbar. Dichter und Publizisten werden in vielen Regionen der Welt für so gefährlich gehalten, daß man sie verfolgt, einkerkert, verschwinden läßt, ermordet. Dem freien Wort wird die Gewalt der Tat entgegengesetzt. Alles Schreiben scheint dann vergeblich zu sein. Beharrlich legen viele Schriftsteller dafür Zeugnis ab, daß sie es für notwendig halten, das Vergebliche zu tun, wo das Aussichtsreiche so eng mit dem Verstummen einhergeht: das Vergebliche – damit wenigstens nicht gelingt, jenes Stillschweigen zu erzeugen, in dem Menschenliebe und Menschenrecht verschwinden würden.