„Sire, Geben Sie Gedankenfreiheit!“Vermutungen über die Macht des Wortes von Gert Heidenreich
Am
Abend des 14. März 1848 brach das Publikum im Stadttheater Graz während der Aufführung
von Schillers Drama Don Carlos in
einen Beifallssturm aus. Der Applaus galt dem soeben gehörten Ausruf des
Marquis von Posa „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit“.
Die Zuschauer bezogen das berühmte Zitat auf die Lage im gärenden
Europa und meinten, im Bühnenadressaten der Aufforderung, Philipp II., einen
anderen zu erkennen: den österreichischen Staatsmann Klemens Wenzel Lothar von
Metternich, den umtriebigen antinationalistischen Strategen im Dienste des
nachnapoleonischen Europas, der zugleich ein Unterdrücker par excellence war und zumindest seit den Karlsbader Beschlüssen von 1819 den geistigen Liberalismus Europas geradezu
fanatisch mit Berufsverboten, Zensur und Spitzeltum auszurotten suchte. Schillers
Marquis Posa wurde als demokratische Gegenfigur gedeutet.
Als der beklatschte Satz im Grazer Theater
fiel, mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Uraufführung des Stücks, war
Metternich bereits aus Österreich geflohen – die sogenannte 48er Revolution
hatte ihn, vorübergehend, nach London vertrieben.
Doch der Applaus gegen ihn und für den
schillernden Marquis feierte eine Person, die einerseits freiheitlich-schwärmerisch,
andererseits harmoniesüchtig angelegt ist und keineswegs demokratisch denkt: Posa
will „Fürstengröße“ und „Bürgerglück“ versöhnen und glaubt, dafür sei die Anerkennung
der allgemeinen Meinungsfreiheit durch den Herrscher von Gottes Gnaden ausreichend.
Allein durch die gewährte Gedankenfreiheit werde Philipp „von Millionen Königen
ein König“, folglich der König der Könige, also der Edelste unter allen, ein
gütiger Vater seines Volkes.
Dass Meinungsfreiheit eine Art Honig sei,
der Herrscher und Beherrschte zu einer glücklichen Gesellschaft verkleben
könne, ist ein merkwürdig zählebiger Irrtum, der sich bis in unsere Gegenwart erhalten
hat.
Vermutlich entspringt er einem
Harmoniebedürfnis, das noch immer dem Traum vom weisen oder wenigstens zurückhaltenden
Herrscher nachhängt, obwohl er seit Anbeginn der überlieferten Geschichte
fortwährend enttäuscht wurde. Autokratie und Bürgerfreiheit sind unvereinbar.
Erst in demokratischen Verfassungen werden Ansätze von Freiheitssicherung festgeschrieben;
das meiste davon ist freilich, genau besehen, revidierbar, sobald die
Kontrollinteressen des Staates tangiert sind. In dubio pro revisionem.
Anders gesagt: Es gibt keine Harmonie
zwischen der Geistesfreiheit des Individuums und den kollektiven Sicherheits-Interessen,
wie sie nach Lage der Dinge von Machtinhabern definiert werden; und im Zweifel
tendiert jede Regierung, jede Justiz eher zur Zensur als zur geistigen
Freiheit.
Dass die Gedanken frei sind, weiß nicht nur
das Volkslied aus der Zeit vor der Französischen Revolution; auch wer regiert, muss
das wissen, und meistens werden daraus drei Schlüsse gezogen: Gut ist es, die
freien Gedanken zu kennen; ratsam ist es, entzündliche Gedanken präventiv zu
löschen; wünschenswert ist es, ihre Formulierung zu unterbinden.
Wie man das macht, ist eine Frage der
Staatsform, der Verfassung, der politischen Intelligenz und der juristischen Raffinesse.
Verfassungstexte führen in dieser Frage gewöhnlich mit hochtönenden
Formulierungen in die Irre.
Wenn wir unvoreingenommen über Meinungs- und
Äußerungsfreiheit, ihre Bedingungen und Folgen nachdenken wollen, sollten wir nicht
glauben, es gäbe Staaten oder Staatsformen, die den Verzicht auf Zensur tatsächlich
für unabdingbar halten. Das Gegenteil ist wahr und wirklich: In
unterschiedlichem Maß sind die Freiheit von Presse, Kunst und öffentlich
geäußerter Meinung in jeder
Gesellschaft gefährdet oder bedroht. Auch in Demokratien, wenn sie denn nicht
nur so heißen, ist der Kopf des Bürgers ein Objekt der Begierde. Gebärdet er
sich freigeistig, gilt es, ihn auszuhorchen: entweder erkennbar zum Zweck seiner
Einschüchterung oder, um keine
schlafenden Hunde zu wecken, möglichst von ihm unbemerkt.
Im Unterschied zu absolutistischen Staaten
sind in Gesellschaften wie der unsrigen dazu ausführende Gesetze nötig, um den
Anschein der Legalität nicht zu beschädigen. Zuweilen genügen aber, wie die
bundesdeutsche Geschichte zeigt, behördlich installierte Gremien; gelegentlich auch
Parteikampagnen oder schlichte Vereinigungen selbsternannter Hüter von Moral
und Sitte, und häufig braucht es nicht einmal die – weil vorauseilender
Gehorsam in den Medien, im Buchhandel und in Bibliotheken das Geschäft der
Zensur besorgt.
Methoden und ihre Folgen sind freilich
durchaus unterschiedlich – sie reichen von Indizierung, Verfemung, Aussortierung
und Secretierung über Buchhinrichtungen und Verbrennungen bis zur gezielten Marginalisierung,
Gefangennahme oder Ermordung von Autoren. Die zugrunde liegende Regel aber ist stets
dieselbe: Ihre alterslose Gültigkeit hat Goethe 1829 treffend in den Wanderjahren seines Wilhelm Meister aussprechen lassen:
„Zensur und Preßfreiheit werden immerfort
miteinander kämpfen. Zensur fordert und übt der Mächtige. Preßfreiheit verlangt
der Mindere. Jener will weder in seinen Plänen noch in seiner Tätigkeit durch
vorlautes widersprechendes Wesen gehindert, sondern gehorcht sein; diese wollen
ihre Gründe aussprechen, den Ungehorsam zu legitimieren.“[i]
Dass Goethe, der übrigens Zensur in gewissem
Maße für notwendig, ja sogar förderlich für die Kunst hielt[ii],
die Bewertung der Äußerungsfreiheit auf Gehorsam und Ungehorsam bezieht, hat
nicht allein mit den politischen Umständen seiner Zeit zu tun. Ungehorsam ist
seit jeher, meist in schönfärbende Synonyme verpackt, die Begründung für
Maßnahmen gegen die Freiheit des Wortes – seien diese Maßnahmen nun als Vorzensur
zur Verhinderung einer Publikation oder als Nachzensur zur Vernichtung einer
Publikation in Vollzug gesetzt. Wir werden noch sehen, welche die effektivere
Methode ist.
Die Vernichtung der Erinnerung ist die
älteste uns bekannte Form nachträglicher Zensur, um 1468 v. Chr., als im Alten Reich Ägyptens Thutmosis III die
Namenskartuschen seiner Vorgängerin Hatschepsut ausmeißeln lässt. Und schon
hier gibt sich die Dummheit des Verfahrens zu erkennen. Denn die Leerstellen
verweisen unübersehbar auf die fehlende Königin. „Sie ist abzulesen, weil da
nichts ist, wo sie sein soll“, schreibt Ingeborg Bachmann dreieinhalb
Jahrtausende später[iii]. In seiner
höchst spannenden und lehrreichen Untersuchung über Bücherverbrennungen – Die
öffentliche Hinrichtung von Schriften im historischen Wandel hat der
Historiker und Germanist Hermann Rafetseder[iv]
die Unzulänglichkeit der ägyptischen Auslöschungsversuche zum Ausgangspunkt
einer wahrhaft grauenerregenden Tour
d’horizont genommen, die den Leser mit zwei wesentlichen Einsichten
zurücklässt; einer negativen: Seit wir von verschriftlichter Sprache wissen,
gibt es den Drang, sie zu kontrollieren, zu zensieren, zu löschen; und einer
positiven: Die meisten dieser Versuche haben das Gegenteil ihrer Absicht zur
Folge.
Bücherverbrennungen
hat es in Judäa gegeben, im antiken Athen, in China unter seinem Reichs-Einiger
Shih Huang-Ti im Jahr 213 v. Chr., in Rom 181 v. Chr., dann in exzessiver Weise
unter Augustus und seinem Nachfolger Tiberius, unter dem auch jenes System aus
Spitzeln, Denunzianten und Inquisitoren errichtet wurde, das, eifrig
perfektioniert, bis in die Neuzeit Bestand hat. Dem Historiker Tacitus und
seinen Annalen verdanken wir die
Darstellung der tiberianischen Gesinnungsverfolgung, vor allem aber eine vergnügliche
Weisheit:
„Um so mehr darf man über die Dummheit jener
lachen, die glauben, ihre augenblickliche Macht könnte auch das Gedächtnis der
künftigen Zeit auslöschen. Im Gegenteil wächst die Autorität der Bestraften,
und nichts anderes haben die Herrscher erreicht als Schande für sich und für
jene den Ruhm.“[v]
Die Verbieter hätten daraus nichts gelernt,
folgert Werner Fuld in seinem kürzlich erschienenen Grundlagenwerk Das Buch der verbotenen Bücher, das sich
im Untertitel zurecht als Universalgeschichte
des Verfolgten und Verfemten von der Antike bis heute bezeichnet. Der
Literaturkritiker und Erzähler Fuld[vi] führt
kenntnisreich und mit spitzer Feder in ein Schreckenskabinett der Zensur, der
Schriften- und Menschenvernichtung – eine mit ironischen Glanzpunkten versehene,
düstere Analyse, auch und gerade in Bezug auf unsere Gegenwart.
Vor allem im zurückliegenden Jahrhundert, in
dem die autoritären Ideologien der Welt zum Verhängnis wurden, hat sich die
Literatur mit negativen, kritischen Utopien zur Wehr gesetzt. Dystopische
Romane wie Jewgenij Zamjatins Wir
(1920), Aldous Huxley’s Schöne neue Welt
(1932), Arthur Koestlers Sonnenfinsternis (1940), George Orwells 1984 (1949) und Ray Bradbury’s Fahrenheit
451 (1953) warnten vor der perfekten Überwachung und Kontrolle, die immer
mit Einschränkung oder Abschaffung der Meinungsfreiheit beginnt.
Zamjatins Roman durfte in der Sowjetunion
siebzig Jahre lang nicht erscheinen, der unorthodoxe Sozialist Orwell wurde vom
englischen Geheimdienst MI 5 überwacht, Koestlers Roman Sonnenfinsternis, eine Abrechnung mit dem Stalinismus, wurde nach
seinem Erscheinen in Frankreich von der dortigen Kommunistischen Partei nahezu
komplett aufgekauft und vernichtet. Fahrenheit
451 von Bradbury, in dem der Besitz von Büchern verboten und die Feuerwehr
dazu da ist, restliche Bibliotheken aufzuspüren und zu verbrennen, war fast
vergessen, als seine geniale Verfilmung durch François Truffaut ihn weltbekannt
machte. Bücher, so heißt es in Bradbury’s utopischem Staat, seien nur geeignet,
die Menschen unglücklich und unzufrieden zu machen. Folglich würden sie zum
Wohl der Menschen vernichtet.
Schon Zamjatin hatte in seinem Roman Wir die Wohlfahrtsregel als das
Rechtfertigungsargument schlechthin erkannt:
„Ist die Freiheit des Menschen gleich null,
dann begeht er auch keine Verbrechen. Das einzige Mittel, den Menschen vor
Verbrechen zu bewahren, ist also, ihn vor der Freiheit zu bewahren.“
Man könnte diesen Satz über die Geschichte
der Katholischen Kirche schreiben. Sie ist die unbestrittene Meisterin der
Literaturunterdrückung und -Vernichtung und hat sich mit ihrer
Leseverbots-Liste, dem Index librorum
prohibitorum, für den das Heilige
Officium zuständig war, über die Jahrhunderte ein infames Instrument
geschaffen, um Gehorsam zu erzeugen, ihre Gläubigen und Priester
einzuschüchtern und Autoren auf jede nur erdenkliche Weise zu verfolgen. Erst
am 7. Dezember 1965 stufte Papst Paul VI, der schon als Kardinal Giovanni
Battista Montini das Gesamtwerk von Graham Greene gerade noch vor der
Indizierung bewahrt hatte, das Officium
zu einer untergeordneten Behörde herunter: Nun hieß sie Kongregation für Glaubenslehre und hatte kein Recht mehr, Bücher zu
verbieten. Nur die rechtskonservative Organisation Opus dei, deren Gründer Josemaría Escrivá 2002 heilig gesprochen
wurde, führt weiterhin einen Index von über tausend Titeln, darunter Umberto Ecos
Der Name der Rose – unbeirrt von der
Tatsache, dass die Kirche bis 1965 eine an Grausamkeit und Dummheit schwer
überbietbare Strecke geopferter Bücher und Autoren hinter sich gelassen hatte,
stets unter Berufung auf die Bücherverbrennung von Ephesus in der Apostelgeschichte[vii].
Auch Luther rechtfertigt mit der biblischen
Textstelle von der Missionsreise des Paulus die Vernichtung „vergifteter“
Schriften, nicht minder der fanatische Protestant Calvin, der 1553 in Genf
Bücher verbrennen lässt, im Fall des Theologen Miguel de Serveto zusammen mit ihrem
Verfasser.
Die Lukas zugeschriebene Erzählung über
Paulus lobt die Vernichtung von Schriften des Aberglaubens und der Wahrsagerei:
“Viele aber, die da vorwitzige Kunst getrieben hatten, brachten die Bücher
zusammen und verbrannten sie öffentlich und überrechneten, was sie wert waren,
und fanden des Geldes fünfzigtausend Groschen. Also mächtig wuchs das Wort des
Herrn und nahm überhand.“
Noch 1940 beruft sich Pius XII. auf das
Ereignis von Ephesus. Die Kirchenzensur, derart apostolisch begründet und
selbstverständlich zum Lobe Gottes und zum Wohl der Menschen betrieben, zielte
darauf, Bildung niedrig zu halten, um dem Klerus Herrschaftswissen und Macht
über die Medien zu sichern – eine Strategie, die sich absolutistische Herrscher
und ideologische Führer zum Vorbild nahmen und nehmen. Auf der Synode von
Toulouse 1229 wurde Laien sogar der Besitz des Alten oder Neuen Testaments in
jeglicher Sprache verboten, folglich auch jedes Gespräch über Glaubensfragen.
Ein öffentlicher
Katalog der verbotener Bücher erschien erst im Jahr 1559. Seither wurde der Index librorum prohibitorum eifrig
fortgeschrieben und bis ins frühe 19. Jdt. großteils von der weltlichen
Obrigkeit übernommen.
Wenn diese ein Buch aus Gründen der Unmoral,
des Ungehorsams oder der Hexerei zur Hinrichtung verurteilte, übergab der
Scharfrichter das Corpus delicti nach
Verkündigung des Exekutionsbefehls auf dem Hauptplatz des Ortes den Flammen:
stets ein festliches Spektakel mit leidenschaftlicher Anteilnahme der
Bevölkerung – nicht anders als auf dem Opernplatz in Berlin am 10. Mai 1933, wo
begeisterte Studenten, die sich selbst als „geistige SA“ bezeichneten, mit fast
dreißigtausend Büchern auch ihre eigene geistige Zukunft verbrannten. Die
Feuerwehr half mit Benzin nach, wie zwanzig Jahre später von Ray Bradbury
beschrieben, und etwa 70.000 Berliner Bürger standen dabei, viele bildeten eine
Menschenkette, in der anstelle von Löscheimern die Bücher weitergereicht wurden
ins Feuer. Natürlich auch solche, die bereits auf dem katholischen Index
standen – die meisten empfahlen sich nicht zuletzt durch ihre Verbrennung als
unbedingt lesenwert.
Wer heute den Werke-Katalog auf der letzten
gedruckten vatikanischen Liste verbotener Bücher von 1948 einschließlich der
Ergänzung durch Pius XII bis 1954 ansieht – Werner Fuld erzählt dazu in seiner Universalgeschichte des Verfolgten und
Verfemten die erstaunlichsten Einzelheiten –, der findet unter den mehr als
6000 Werken einen kenntnisreich zusammengestellten Kanon der belletristischen Weltliteratur:
von Balzac über Diderot, André Gide, Heinrich Heine und Victor Hugo, Gotthold
Ephraim Lessing, Fjodor Dostojewski, Stendhal und Laurence Sterne, bis zu
Voltaire und Emile Zola, Daniel Defoe und Nikos
Kazantzakis; auch nahezu
alle bedeutenden Philosophen und Wissenschaftler, darunter Pascal, John Locke,
David Hume und – man ist versucht zu sagen zu sagen: selbstverständlich –
Immanuel Kant. Seltsamer Weise ist Darwin die Ehre dieses Index’ vorenthalten
worden. Auch sucht man die Schriften von Hitler, Stalin und Mussolini
vergebens.
Wer auf die Liste geriet, war nicht nur in
Gefahr, zumindest sein Seelenheil zu verlieren, er konnte sich auch glücklich
schätzen; denn nichts empfahl ein Buch in gebildeten Kreisen besser als seine
Indizierung durch den Vatikan. Dessen wahrhaft absurdes Vorhaben aus dem Jahr 1571,
auch die Vergangenheit zu zensieren und alle griechischen und römischen
Klassiker einer Bereinigung zu unterwerfen, der sogenannte Index expurgatorius, ist freilich an unüberwindlichen
Schwierigkeiten gescheitert...
Die
weltlichen Herrscher und Minister haben, zumal mit Beginn der Aufklärung, nicht
weniger panisch und engstirnig agiert als der Vatikan. Das 18. Jahrhundert ist
der Auftakt eines geistigen Freiheitskampfes, dem der Absolutismus mit allen
Mitteln der Unterdrückung entgegentritt. Das große Projekt der Encyclopédie von Diderot und D’Alembert
ist eine einzige Abfolge von Zensur, Beschlagnahmung, Bespitzelung,
Gefängnishaft, Einschüchterung und Bedrohung, Zerstörung von Druckbögen und –
auf Seiten der Verleger und Enzyklopädisten – von Unbeirrbarkeit, Finten, Mut,
List und Hoffnung. Ein Wunder, dass es am Ende gelang. Ob seine Wirkung so groß
war, wie gern behauptet wird, sei dahin gestellt. Aber es zeigt – wenn man eine
Linie zieht von den griechischen Vorsokratikern bis zur Encyclopédie – was das geistige Europa eigentlich ist: Dieses
Europa ist, mit allen Brüchen und Rückschlägen, das Projekt für die
Durchschaubarkeit der Welt und steht darum in Widerspruch zu all jenen
Projekten, die von der Undurchschaubarkeit leben. Neuerdings gehört dazu auch
die Finanzwelt.
Dass Religionen sich nicht durchschaubar
machen können, ist evident, die meisten von ihnen leben von der Verkündigung
ihrer Glaubenssätze und von der Leugnung oder Umdeutung rationaler Erkenntnis;
folglich bekämpfen sie, was ihren Wahrheitsanspruch in Frage stellen könnte –
ob das nun mit der Brutalität vatikanischer Bibelexegese geschieht oder mit der
Volksverhetzung durch willkürliche Koran-Auslegung. Beide können sich
ursprünglich auf das Alte Testament beziehen, 3. Buch Mose, 24,16: „Wer Gottes
Namen lästert, der soll des Todes sterben; die ganze Gemeinde soll ihn
steinigen.“ Und was Gotteslästerung ist, bestimmen immer die, die Gottes Nähe
für sich beanspruchen. George Bernard Shaw folgerte daraus: "Alle großen
Wahrheiten beginnen als Blasphemie."
Das Projekt der Durchschaubarkeit der Welt
ist seit Jahren wieder in die Schusslinie religiöser Fanatiker geraten. Wieder
trifft es zuerst die Autoren. Das im Iran gegen Salman Rushdie ausgesprochene
Todesurteil, die fatwa, die längst
auch andere Autoren und Autorinnen getroffen hat, entspringt derselben Geisteshaltung
wie das Verdikt eines vatikanischen Index-Gutachters im Jahr 1863:
„Eine weitaus schlimmere Geißel als der
Heuschreckenschwarm, mit dem Gott die Überheblichkeit des Pharao bestraft, ist
diese Flut von Romanen, mit der Satan sich bemüht, die Gesellschaft zu
verderben.“[viii]
Wie sich die Bilder gleichen: Die Nazis
nannten die Romane, die sie verbrannten, „Zersetzungspest“.[ix]Zersetzen, Verderben, Vergiften – so
lauten die Standardvorwürfe der Zensoren gegen missliebige Schriften.
Dass obrigkeitsstaatliche Zensur auch im
Dienst so hehrer Ziele wie Rationalität, Aufklärung und Emanzipation, Erlösung
aus Leibeigenschaft und Ausbeutung stehen kann, mag man nicht vermuten. Und
doch hat der Kommunismus, der von Schriftstellern und Künstlern als Befreiung des
Menschen zu sich selbst gefeiert und befördert worden war, die Freiheit der
Meinung und des veröffentlichten Wortes noch perfider und erfolgreicher
unterdrückt als das zuvor herrschende zaristische Regime. Dessen Zensoren waren
schlimm genug, manchmal aber wenigstens literarisch gebildet wie Iwan
Alexandrowitsch Gontscharow, der als Oberzensor den weltberühmten Roman Oblomow publizierte. Das Kontrollsystem,
das Zar Nikolaus I nach 1848 durch sein, durchaus wahrheitsgemäß betiteltes Komitee zur allerhöchsten Überwachung von
Geist und Absicht privater Veröffentlichungen installieren ließ, war
effektiv und grausam – seine Methoden ließen sich nur zehn Jahre nach dem Sieg
der Oktoberrevolution nahtlos in den Bolschewismus integrieren und zum Zweck
der Schaffung des Neuen Menschen vervollkommnen.
Als mit Trotzki der letzte einflussreiche Oppositionelle und Befürworter einer
libertären Literaturpolitik beseitigt war, gab Stalin die einst stolz
verkündete permanente Revolution auf
und errichtete sein vatikanisches System. Schriftsteller wurden bespitzelt,
zensiert, verhaftet, in Arbeitslager verbannt, zur Emigration gezwungen, sie
wurden stumm gemacht, in den Selbstmord getrieben wie Majakowski, im Gulag
gefoltert wie Solschenizyn. Die UDSSR feierte ihre systemkonformen Autoren in
mächtigen Verbänden und deren herrschaftlichen Clubhäusern, sie versah sie mit
Orden und Privilegien – doch dies alles galt nicht der eigentlichen
literarischen Kultur der sowjetischen Länder. Die spielte sich weitgehend
jenseits der Verlage, jenseits der Kulturhallen, jenseits der Theater ab. Die
große, avantgardistische Künstlerhoffnung nach 1819 war erstickt. Selbst der
mit der Revolution berühmt gewordene Michail Bulgakow, ein virtuoser Erzähler
und glänzender satirischer Kopf, geriet in die Mühlen der Zensur, sein
Hauptwerk, der Faustroman Meister und
Margarita, erschien erst 1966, 26 Jahre nach dem Tod des Autors im Land
seiner Sprache, und dann in einer zensierten Fassung. Vergeblich hatte Bulgakow
an Maxim Gorki appelliert, sich für seine Ausreise zu verwenden. Schließlich
wandte er sich in einem Brief direkt an Stalin. Der Brief half ihm nicht, hätte
ihn aber vor ein Erschießungskommando bringen können. Ein Dokument
beispielhaften Mutes für das freie Wort:
„Der Kampf gegen die Zensur, wie sie auch
sei und unter welcher Macht sie auch existiert, ist meine Pflicht als
Schriftsteller, ebenso wie Aufrufe zur Pressefreiheit. Ich bin ein glühender
Anhänger dieser Freiheit, und ich meine, dass ein Schriftsteller, der auf die
Idee käme, beweisen zu wollen, dass er sie nicht brauche, einem Fisch gliche,
der öffentlich versichert, kein Wasser zu brauchen.“[x]
Nach diesem Schreiben vom März 1930 wurde von Bulgakow in den zehn Jahren bis
zu seinem Tod nichts mehr gedruckt. Wir kennen nicht alle Schicksale, wissen
aber von Isaak Babel, dass er hingerichtet wurde, seine Manuskripte wurden vom NKW[xi]
verbrannt, wir wissen von Alexanders Ginsburg, dass er sechs Jahre Arbeitslager
erhielt, von den Verurteilungen Ossip Mandelstamms, vom Publikationsverbot für
Platonow seit 1929 bis zu seinem Tod 1951, von dem Lyriker Nikolaj Klujew, der
1937 in einem sibirischen Lager umkam und aus der sowjetischen
Literaturgeschichte gelöscht wurde. Anna Achmatowa erhielt Schreibverbot,
Zamjatin wurde ins Exil getrieben, Pasternak gezwungen, den Literaturnobelpreis
nicht entgegenzunehmen... man könnte lange fortfahren mit den Schicksalen.
Die
ungeheure Angst vor dem freien Wort hat etwas mystisches, sie ist, zumal im
zwanzigsten Jahrhundert, kaum begründbar. Und doch ist sie so wirksam, dass
sich die Tradition der Nachzensur, in der noch der vatikanische Index steht,
mehr und mehr verlagert in Richtung präventiver Unterdrückung. Die
nachträgliche Vernichtung des Wortes genügt nicht mehr, Vorzensur soll die
Werke der Autoren aus der Öffentlichkeit fernhalten, ja möglichst schon ihren
Entwurf verhindern. Wo dies nicht gelingt, sind Vertreibung, Inhaftierung und
Mord die Mittel der Wahl. Darin sind sich alle Diktaturen gleich. Man will eine
systemkonforme Literatur, die feiert, was gute Autoren eigentlich verabscheuen
müssten.
Was etwa die Nazis dadurch gewannen, dass
sie sich aus der Kulturgeschichte, zu der Deutschland bis zu ihrem Machtantritt
gehörte, verabschiedeten, war eine affirmative, überwiegend todlangweilige,
kitschige Propagandaliteratur einerseits und eine erzwungene Verinnerlichung
andererseits, die literarisch weitgehend unergiebig blieb. Eine öffentliche
deutsche Literatur, die diesen Namen verdient, existierte zwischen 1935 und
1945 kaum mehr auf deutschem Boden. Was die exilierten Schriftsteller
bereitwillig zurückließen, war das Pathos der sich selbst bewundernden Paladine.
Man lese ein paar Seiten des Kitschromans Michael
– Ein deutsches Schicksal in Tagebuchblättern, den Joseph Goebbels 1929 in
München publizierte[xii], und man
sieht sofort, was und wen er vernichten musste, um vor sich selbst sprachlich
bestehen zu können.
Erstaunlich ist, dass die in Diktaturen und
Pseudodemokratien genehmigte und gewünschte Literatur vom System selbst nicht
als wertlos erkannt wird. Im Grunde könnte jeder Zensor wissen, dass Texte, die
er durchgehen lässt, nur das Niveau seiner Vorschriften haben können,
interessante Literatur aber seine Genehmigungsschwelle übersteigen müsste.
Vielleicht liegt darin der Grund für die Furcht vor dem freien Wort: Was sich
den Kriterien der behördlichen Zustimmung entzieht, ist nicht definierbar, also
nicht einzugrenzen; während man die abgesegneten Manuskripte schon im Momente
ihrer Genehmigung für erledigt halten müsste. Wer Zustimmungsliteratur und
Jubelpresse erzwingt, lebt mit dem Verdacht, dass dahinter ungeäußerte Sätze
lauern, die vom Kaiser ohne Kleider erzählen.
Kein Wunder, dass die Suche nach neuen
Lösungen einsetzte und endlich in der DDR in einer Amalgamierung von Zensur und
Selbstzensur mündete: Sie bestand darin, Schriftsteller durch Verlagslektoren
und Organisationen, durch Beschränkungen oder Belohnungen zur ’Einsicht’ zu
bringen, auf den rechten Weg, auf Linie also. Wer sich nicht durch Kontrolle
’fördern’ lassen wollte, hatte schlechte Karten bei der Papierzuteilung für
Buchprojekte. Geschickt verband man Verleger, Redakteure und Autoren in einem
Zensursystem, das am Ende aussehen sollte wie Selbstkontrolle durch
Überzeugung. Ein gewissermaßen kollegiales Bearbeitungsnetz war im Vorfeld der
harten Zensur ausgespannt. Abgesichert durch ein perfides Spitzelsystem, in das
ebenfalls Schriftsteller eingebunden wurden, konnte das funktionieren. Wo
nicht, wie etwa bei Erich Loest, folgte die Isolierung hinter Schloss und
Riegel.
Wie schon immer in der Geschichte galt auch
hier die Wohlfahrtsregel: Zensur zum Wohl der Gemeinschaft, deines Landes, der
sozialistischen Zukunftshoffnung, unter Berücksichtigung des Kalten Kriegs –
hatte nicht auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs John F. Kennedy den
selben Appell in die einfache Formel gefasst: Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, frage, was du für dein
Land tun kannst?
Selbstverständlich war in der Verfassung der
DDR die Meinungsfreiheit garantiert:
„Jeder Bürger der DDR hat das Recht, den
Grundsätzen der Verfassung gemäß, seine Meinung frei und öffentlich zu äußern.“[xiii]
Die Einschränkung „den Grundsätzen der Verfassung gemäß“ ist auf den
Führungsanspruch der SED in Artikel 1 bezogen sowie auf Artikel 18, in dem zum
„Schutz der sozialistischen Kultur“ ihr „Missbrauch für Zwecke“ untersagt wird,
„die den Bestimmungen und dem Geist der Verfassung widersprechen“ – womit
wiederum der Primat der Partei gemeint ist. So ließ sich die Benennung der real
existierenden Zensur umgehen, die selbstredend auch für Ausländer galt.
Als der katholische St.Benno-Verlag in
Leipzig 1987 die Genehmigung erhielt, meinen Roman Die Steinesammlerin als DDR-Ausgabe zu publizieren, stieß der Hauptverwaltung
Verlage und Buchhandel (HV) im Ministerium für Kultur eine Passage im Roman auf, ein Zeitsprung, der in wenigen
Sätzen von 1949 nach 1959 führt. Einer der Sätze lautet: „In Berlin warfen
Arbeiter Pflastersteine auf Panzer.“ Der Verlag beschied mir, der Satz müsse
leider entfallen. Ich ließ dem zuständigen Beamten im Ministerium mitteilen, ich
sei bereit, den Satz umzuformulieren: „In Berlin warfen Panzer Arbeiter auf
Pflastersteine.“ Was ja ebenso gut zum 17. Juni 1953 passte. Das Projekt wurde
gestoppt, der Verlag bat händeringend um mein Einlenken. Ich ließ mich
breitschlagen und erklärte, der Satz könne entfallen, wenn die Streichung mit
den üblichen drei Punkten, in Klammern gesetzt, sichtbar gemacht würde.
Abgelehnt. Ich schrieb an den Beamten im Ministerium, das Auslassungszeichen
sei in der DDR-Literatur üblich, auch Christa Wolff sei so veröffentlicht
worden. Er ließ mir mitteilen, Auslassungszeichen seien Autoren der DDR
vorbehalten und würden Ausländern nicht zugestanden.
Ich lernte daran, dass Zensur in der DDR ein
Privileg war. Nach fast zweijährigem Gezerre gab ich entnervt auf. Der Verlag
hatte das Buch durch ein umfänglich interpretierendes Nachwort in einen
christlich-sozialistischen Kontext gezwängt und brachte es 1989 heraus, kurz
vor dem Fall der Mauer. Es kam so gut wie gar nicht mehr in den Handel.
Die unfassbare Ignoranz des Zensors, der
natürlich wusste, dass Stefan Heym längst seinen Roman Der Tag X über den 17. Juni 1953[xiv]
geschrieben hatte, war für den Autor, der unbedroht in der BRD saß, allenfalls
Stoff für eine Satire – Autoren der DDR aber hatten sich ständig mit derartigen
offiziellen Geistesbeschränkungen herumzuschlagen; kein Wunder, dass viele von
ihnen die Vorsicht verinnerlichten, nicht wenige daran verzweifelten. Nicht zu
reden von denen, die sich als Denunzianten zur Verfügung stellten. Die DDR hat
ungezählte Talente systematisch verhindert, unterdrückt, in die Emigration
getrieben.
Artikel
5 unseres Grundgesetzes von 1949, das jedem von uns das Recht auf freie
Information und Meinungsäußerung zuspricht, endet mit einem Satz wie eine
Fanfare: „Eine Zensur findet nicht statt.“
Das ist zwar nicht ganz so gelogen wie es
der ähnlich lautende Passus in der DDR-Verfassung war, doch kann man mit Fug
und Recht behaupten, es handle sich angesichts der politischen und
gesellschaftlichen Realität der Bundesrepublik um eine unhaltbare Behauptung.
Wollte man sie haltbar machen, müsste man
umständlich ausführen: Es gibt keine
staatliche Behörde für Vorzensur. Versuche zur Vorzensur können jedoch
jederzeit von Privatpersonen, Vereinen, Parteien, Institutionen unternommen
werden. Desgleichen darf Nachzensur aus den unterschiedlichsten Gründen
angestrebt und erfolgreich durchgesetzt werden. Näheres regelt das
Strafgesetzbuch.
Dass die Behörden der BRD nichts von freier
Meinungsäußerung hielten, zeigte sich bereits 1950 in der zeitweisen Verhaftung
und Diskriminierung von etwa 1.500 Personen, die gemeinsam mit Robert Havemann
den Stockholmer Appell gegen die
amerikanische Atomrüstung unterzeichnet hatten; der Bayerische Rundfunk
erteilte seinen drei bekanntesten Sprechern wegen Unterzeichnung dieses Friedensappells
Mikrophonverbot. So ging es los, und so ging es weiter; die Sozialdemokratin
Lilly Wächter, die nach einer Koreareise in Vorträgen von ihren Erfahrungen
berichtete und den amerikanischen Einsatz von Napalm und bakteriologischen
Waffen kritisierte, wurde verhaftet, zu acht Monaten Gefängnis und 15.000 DM
Strafe verurteilt. Eine Beweisführung ihrer Behauptungen wollte das
Berufungsgericht nicht einmal zulassen. Der Richter wörtlich: „Ein Staat kann
sich auch durch die Wahrheit verletzt fühlen. Wenn ein Staat verbieten will,
dass er durch die Wahrheit verletzt wird, hat er ein Recht, das zu tun.“[xv]
Noch zogen die Schwaden aus den Nazitrümmern
durch die Gerichte, und wer wissen will, was Grundgesetz Artikel 5 unserem Volk
wert war, kann sich in Werner Fulds Buch
der verbotenen Bücher eine Gänsehaut anlesen. Von der Anti-Brecht-Kampagne
über die zahlreichen Film- und Buchverbote aus angeblich moralischen Gründen –
1959 wurde jegliche Vorführung des Billy-Wilder-Films Manche mögen’s heiß mit der Begründung verboten, der Film
habe allein schon durch seine ‚Beweglichkeit‘ unsittliche Möglichkeiten, die
keinem anderen Unterhaltungsmedium zur Verfügung stehen – bis zu den Hetzkampagnen gegen Engelmann, Böll,
Grass und Jens, von der Spiegelaffäre 1962 bis zur verfassungswidrigen
Durchsuchung der Redaktionsräume der Zeitschrift Cicero 2005; von der Verlagszensur gegen Remarques Roman Zeit zu leben und Zeit zu sterben aus
dem Jahr 1954, den deutsche Leser erst 1989 unverstümmelt erwerben konnten, bis
zu der fragwürdigen Praxis der Bundesprüfstelle
für jugendgefährdende Schriften, die in den fünfziger und sechziger Jahren
anstelle des umfänglichen neonazistischen Schrifttums harmlose Comics auf den
Index setzte: Stets blieb Artikel 5 GG unangetastet, weil es gar keiner
Regierungsbehörde bedurfte, um Zensur auszuüben oder in Gang zu setzen; es gab
hinreichend Ermessensspielraum bei Richtern, bei Zoll und Post für Kontrolle
und Vernichtung importierter ausländischer Kulturgüter und aufmerksame Vereine
wie den Volkswartbund (sic!)[xvi],
der unter der Ägide des Erzbischofs von Köln die Buchhandlungen nach
unmoralischem Lesestoff durchschnüffelte und, fündig geworden, Kampagnen zur
Indizierung anstieß. Es gab und gibt willfährige Buchhändler, die öffentlich
verfemte oder auch nur umstrittene Bücher aus den Regalen nehmen – wie derzeit
das Schwarzbuch über den WWF, das nicht verboten, aber so gut wie
verschwunden ist[xvii] –, es gab
Bibliotheken, die Titel von Grass vorsorglich in den Giftschrank stellten, als
der Autor mit gerichtlicher Genehmigung als „Verfasser übelster pornografischer
Ferkeleien“ bezeichnet wurde.[xviii] Und es
gab, nicht zuletzt, Rundfunk- und Fernseh-Redakteure, -Direktoren und -Intendanten,
die mit einem Ohr am Zeitgeist lauschten, der aus den Parteizentralen,
Unternehmensverbänden und Kirchen wehte. Manchmal auch mit beiden Ohren.
Zur unschönen Wirklichkeit des Artikel 5 GG
gehört nämlich, dass er je nach politischer Stimmung im Lande mehr oder weniger
wert war und ist. So hatte die „geistig-moralische Erneuerung“, die
ausgerechnet der spätere Amtseid-Ignorant Helmut Kohl verkündete, eine Flut von
Buchverboten zur Folge: Allein zwischen 1981 und 1986 gerieten 415 Titel auf
den Index der Bundesprüfstelle.[xix] In Bayern
hatte sich schon ein Jahrzehnt zuvor ein Klima verbreitet, das dem Münchner
Rundfunk eine extrem schwierige Zeit bereitete. Die CSU verfolgte seine
Programme gleichsam mit Argus-Ohren in der Staatskanzlei, um rechtzeitig
Beschwerde einlegen zu können. „Wir arbeiten wie ein PR-Büro, wie
Maggi-Vertreter, wir wollen lediglich durch Mitteilung von Informationen
wirksam werden“, wurde ein Regierungsrat zitiert. Ein Oberamtsrat fragte an,
„ob Sendungen vorher bekannt sind, damit man nicht immer zuhören muss.“ Es ging
um das Vormittagsmagazin Notizbuch,
in dem, so Franz Josef Strauß, „Tropfen roten Gifts verspritzt“ würden. Da es
sich um eine Live-Sendung handelte, schlug der Regierungsvertreter vor, immer
„telefonisch reinrufen“ zu können, um „Fehler gleich“ zu „korrigieren“.[xx]
Der Sender wies den Antrag auf simultane Vor- und Nachzensur ab, stand jedoch
weiterhin gewaltig unter Druck.
Es war die Zeit, in der Bayerns
Ministerpräsident im Nazi-Jargon von Schriftstellern als „Ratten und
Schmeißfliegen“[xxi] sprach und
der Autor Heinrich Böll bezichtigt wurde, den Terrorismus der RAF geistig zu
unterstützen. Ich vereinbarte für das Magazin Notizbuch ein Interview mit ihm. In der Nacht vor diesem Gespräch
meldete sich ein anonymer Anrufer bei der Kölner Polizei und behauptete, in der
Wohnung von Bölls Sohn René seien Waffen versteckt, worauf ein Sonderkommando
um fünf Uhr früh die Wohnung der jungen Familie durch die Fenster erstürmte und
durchsuchte. Vater Böll war bei der morgendlichen Aufzeichnung des Interviews
am Rand seiner Selbstbeherrschung, aber nicht ausfällig.
Am Tag der Sendung, es war der 30. September
1977, meldete sich ein Mitarbeiter der Bildzeitung
in der Direktion des Bayerischen Rundfunks und behauptete, seit der frühen
Programmankündigung stünden in der Redaktion von Bild München die Telefone
nicht mehr still: Die Bürger seien darüber empört, dass Böll im BR sprechen dürfe. Der Programmdirektor, der sich
gern als Linkskatholik bezeichnete, ließ sich das Band mit dem Interview
kommen, hörte es ab und verbot die Ausstrahlung. Tags darauf konnte man es in
der Frankfurter Rundschau nachlesen.
Meine Erfahrungen mit Artikel 5 GG endeten
damit nicht. Der damalige Leiter der Bayerischen Staatskanzlei verlangte, der
Sender solle mir Mikrophon- und Hausverbot erteilen; der Justiziar und spätere
Intendant Albert Scharf ließ mich wissen, dass solche Briefe bei ihm im
Papierkorb landeten. Lange konnte das nicht gut gehen. Die CSU hatte von der
APO gelernt und trat den Gang durch die Institutionen an. Ein neu
installierter, der Partei angenehmer Abteilungsleiter des Magazins setzte mich
mit den Worten vor die Tür: „Ich muss hier mal einen Schnitt machen. Wir sind
politische Gegner. Sie haben hier nichts mehr zu schreiben.“
Ich darauf: „Sie können sich denken, dass
das juristische Folgen hat.“
Er nickte: „Selbstverständlich, schon aus
sportlichen Gründen.“
Ihm hat der Vorgang[xxii],
der vor allem publizistische Folgen hatte, nicht geschadet, er stieg bald zum
Programmdirektor auf und war bis vor kurzem Intendant des Mitteldeutschen
Rundfunks. Mir auch nicht: Ich baute den Vorfall leicht camoufliert in meinen
ersten veröffentlichten Roman ein, Titel: Der
Ausstieg. Und in großem Abstand und weit weniger angespannten Zeiten
verlieh der BR mir seine schönste Auszeichnung[xxiii],
was mich gefreut hat – man kann sagen, dass wir alle Höhen und Tiefen
miteinander geteilt haben.
Ich erzähle die Zensurvorgänge, weil sie
keineswegs singulär, sondern durchaus signifikant für unsere Medien sind. Es
gibt weit spektakulärere Schicksale, mit weit schlimmeren Folgen. Parteien
versuchen, das Radio und vor allem das Fernsehen für die eigenen Zwecke zu
nutzen, platzieren nach Möglichkeit Günstlinge, und die Leitungsgremien in den
Sendeanstalten haben selbst bei bestem Willen Mühe, sich den Zudringlichkeiten
zu entziehen – vor allem wenn Repräsentanten der Sender mit der Unterstützung
einer Partei ins Amt gelangt sind. Das Prinzip gilt übrigens auch für
Berufsverbände, Interessenorganisationen und Kirchen. Jedes Programm, das wir
sehen oder hören, kann nicht nur von redaktionellen Entscheidungen, sondern
auch politisch motivierten Interessen und damit Zensurvorgängen bestimmt sein,
die uns verborgen bleiben. Werner Fuld nennt das „Verbote ohne Verbot“.
Gewiss ist der Freiheitsstatus unserer
Presse und unserer Künste im Weltmaßstab dennoch erfreulich hoch, und in
unserer Vergangenheit finden sich keine so abstrusen Buchhinrichtungen wie in
Großbritannien, wo schon mal tote Autoren exhumiert wurden, damit man ihre
sterblichen Reste zusammen mit ihren Büchern verbrennen konnte, und wo Ulysses von James Joyce aus dem Jahr
1918 erst vierzig Jahre später unzensiert erscheinen konnte.
Selbst der gepriesene Hort der Freiheit, die
USA, schneiden schlecht ab: Während 1933 in New York Tausende auf den Straßen
gegen die Bücherverbrennung der Nazis protestierten, brannten zugleich in
anderen Bundesstaaten der USA Bücherscheiterhaufen, deren Feuer religiös oder
moralisch oder rassistisch begründet war, und die Postbehörde äscherte
dieselben Bücher von Hemingway und John dos Passos ein, die in Deutschland von
den Nazis verbrannt wurden.
Europa hat bis heute höchst unterschiedliche
Klassen der Meinungsäußerungs- und Kunstfreiheit. Irland – diese Provinz des
Vatikan, in der 2009 das Gesetz gegen Gotteslästerung erneuert und die Strafen
verschärft wurde – leistet sich seit 1945 eine stets fortgeschriebene Liste von
verbotenen Büchern, die ein brillanter Empfehlungskatalog der Weltliteratur
ist.
Die Insel befindet sich in scharfer
Konkurrenz mit den US-Staaten South Carolina, Iowa, Maine und Massachusetts um
die absurdesten Zensurentscheidungen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurden
dort, teils im Rahmen von book-burnig-Gottesdiensten,
die Harry-Potter-Bestseller wegen
Propagierung der Magie verbrannt.[xxiv] Kalifornien kann mithalten: Hier hat
ein Gericht das Märchen Rotkäppchen verboten:
wegen der Flasche Wein für die Großmutter.
Auch Israel ist nicht gefeit: in Or Jehuda
brannten im Mai 2008 einige hundert Exemplare des Neuen Testaments; die Sekte
der Messianischen Juden, die an Christus als den Messias glauben, hatten sie
verteilt; Talmudschüler sammelten sie ein und errichteten aus ihnen einen
Scheiterhaufen.
Religiöser
Wahn lässt nicht nur Fahnen brennen. Er bedroht die Freiheit des Wortes in
nahezu allen Weltgegenden. Hinzu kommt ein profaner Wahn, der Tabak, Alkohol
und Erotik aus Presse und Literatur verbannen will; demnächst wohl auch
Übergewicht und Magersucht.
Zigaretten verschwinden aus dem Mundwinkel
von Comic-Helden, Trinkerszenen werden aus Filmen geschnitten, erotische Romane
zu Pornographie erklärt: Der amerikanische Feldzug für korrekte Kunst wird uns,
sollte er nicht zum Stillstand kommen, lasterfreie Helden bescheren. Am Ende
stehen polierte Figuren ohne Schwächen, ohne Schicksal, ohne Widerstand, ohne
Konflikt – das heißt: Eine Literatur ohne Literatur. Autoren werden sich auf die
purgierenden Zensurvorgaben der Einzelhandelskette Wal-Mart einstellen müssen, wenn sie ihre Bücher nicht nur in
Großstädten verkaufen wollen. Denn Wal-Mart
beherrscht mit seinen Stores den Buchhandel außerhalb der Metropolen. So wird
die erfolgreichste aller Arten von Zensur installiert: Die unsichtbare Zensur.
Man nennt sie auch die Schere im Kopf.
Die amerikanische Tendenz zu seifenreiner
Sittlichkeit trifft auch hierzulande auf traditionelle Bereitschaft: 1965
verbrannten 25 Jungen und Mädels des Jugendbunds
für entschiedenes Christentum am Düsseldorfer Rheinufer Nabokovs Lolita, dazu Romane von Camus, Grass,
Françoise Sagan und Erich Kästners Gedichtsammlung Herz auf Taille. Nichts davon hatten sie, nach eigenem Bekunden,
gelesen. Zum Klang ihrer Gitarren stimmten sie ein frohes Lied an: „Wir jungen
Christen tragen / ins dunkle deutsche Land / ein Licht in schweren Tagen /als
Fackel in der Hand.“ Irgendwie kennt man den Sound der jungen Leute, noch
besser ihre Begründung: „Gegen die Vergiftung des deutschen Volkes.“ Und auch
die Genehmigung des Ordnungsamts Düsseldorf wirkt vertraut, das nur darum bat,
die vorschriftsgemäß als „Verbrennung von Schundliteratur“ für den Karlsplatz
angemeldete Veranstaltung wegen Besorgnis des Funkenflugs ans Rheinufer zu
verlegen.[xxv]
So entschiedene Christen müssten mit der
jüngsten Entwicklung der deutschen Justiz hoch zufrieden sein. Die Anzeichen
dafür mehren sich, dass unsere Rechtsprechung bereit ist, bei der Abwägung von
Äußerungsfreiheit und Persönlichkeitsrechten, von Kunstfreiheit und
Beleidigungsverbot, von Satire und Verunglimpfung den Artikel 5 GG derart mit
Einzelentscheidungen zu umstellen, dass er am Ende dahinter verschwinden
könnte. Nach dem berühmten Verbot von Klaus Manns Roman Mephisto 1966, in dem das Oberlandesgericht Hamburg die Begriffe Schlüsselroman und Kunstwerk gegeneinander ausspielte, wurde lange kein Roman mehr als
sogenannte Schmähschrift verboten.
Erst in jüngster Zeit fielen juristische Urteile gegen Romane von Maxim Biller
und Nicolai Herbst – nach Verbotsanträgen von Personen, die sich darin
erkennbar und negativ geschildert fanden.[xxvi]
Nach den hier angewandten Kriterien hätten weder Die Buddenbrooks noch Die
Leiden des Jungen Werthers erscheinen können. Niemand bezweifelt, dass es
schwierig ist, die Rechte des Einzelnen gegen das Grundrecht auf
Meinungsfreiheit und die verfassungsrechtlich garantierte Freiheit der Kunst
abzuwägen, schon gar nicht in Zeiten des Internets, wo die Zensurdebatte erst
beginnt, die Realität einzuholen – aber die Tendenz, für die Macht des
Persönlichkeitsinteresses die Freiheit des Wortes zu riskieren, muss
alarmieren.
Angesichts der massiven Verfolgung von
Autoren und Journalisten in den meisten Ländern dieser Erde mag man hiesige
Bedenken für marginal halten. Tatsächlich sind die Fälle, die den P.E.N. und
seine Abteilung Writers in Prison, den Verein Journalisten helfen Journalisten[xxvii]
und Amnesty International bedrücken und beschäftigen, von ganz anderem,
dunklen Gewicht. Es geht oft nicht mehr um die Freiheit der Meinung, sondern um
die Freiheit der Person, um Leben oder Tod. Doch diese Alternative ist nur das
Ende einer Strecke, die mit der Entscheidung Reden oder Schweigen beginnt. Biografie und Werk des chinesischen
Dichters Liao Yiwu, der im Herbst den Friedenspreis
des Deutschen Buchhandels erhalten wird,
ist dafür beispielhaft. An seinem Werk lässt sich ablesen, dass die Macht
des Wortes im Wesentlichen auf zwei Möglichkeiten beruht: Die Wahrheit der
Zustände möglichst unverstellt und unvoreingenommen zu formulieren; und vom
Schicksal des Menschen wahrhaftig und bewegend zu erzählen. Damit diese Kraft
der Worte auch im Zeitalter perfekt beherrschbarer Massenmedien fortbestehen
kann, ist äußerste Wachsamkeit gegenüber jedem Beschränkungsversuch nötig. Dass
die Zensoren noch immer gegen alle geschichtliche Erfahrung glauben, sie
könnten ein Wort, das einmal in der Welt ist, wieder zurückholen oder die Ideen
und die Kunst eines Schriftstellers mit seinem Leben auslöschen, spricht für die
sture Dummheit des Zensurgewerbes und seiner vielen brutalen Helfer. Ihnen
entgegenzutreten, war und ist eine der Pflichten der Freiheit.
Anmerkungen
[i]
Zit. Nach Martin Schröder: Presse und Zensur um das Jahr 1800; GRIN Verlag,
22.4.2004
[ii] (ebd.:)
Eine Opposition, die keine Grenzen hat, wird platt. (Zu
Eckermann 9.7.1827)
Obwohl ihm vermutlich der
Ausspruch des verehrten Friedrich II., nach dem die »Gazetten nicht genieret
werden« dürften, bekannt war, hielt Goethe Pressefreiheit eher für schädlich.
Einerseits grauste es ihn vor einer Vermehrung des »babylonischen Idioms« (an
Sartorius 20.7.1817) und dem Geschwätz wenig unterrichteter Schreiberlinge,
andererseits begrüßte er die disziplinierende Wirkung der Zensur (Motto) mit
einem seltsamen Argument: Als ob sich der Stotterer über seine Behinderung
freuen könne, weil sie ihn zu Ausweichlösungen bei unaussprechlichen Anlauten
nötigt, verlangte Goethe, man solle die Einschränkungen der Pressefreiheit
begrüßen, weil sie »zu geistreicherem Ausdruck der Ideen durch Umwege« zwinge
(zu Riemer 9.7.1827). Dringend, aber erfolglos riet er Großherzog Karl August
daher von ihrer Freigabe ab, weil er befürchtete, aus der gewährten Freiheit
könne ein »Preß-Despotismus« werden (Brief 5.10.1816). Nach Pressefreiheit
nämlich schreie »niemand, als wer sie mißbrauchen will« (Maximen und Reflexionen
972). Mit entsprechender Genugtuung nahm Goethe daher die Karlsbader Beschlüsse
von 1819 auf, die auch Sachsen- Weimar-Eisenach zu erneuter Einführung der
Zensur verpflichteten.
[iii]Der Fall Franza, München 1979, S. 104[iv]
Wien 1988, Böhlau Verlag
[v]
Werner Fuld a.a.O., S. 32
[vi]
W. Fuld, Berlin 2012, Galiani Verlag
[vii]
Apg. 19, 19
[viii]
Fuld, S. 139
[ix]Völkischer Beobachter 12.5.1933
[x]
Fuld, a.a.O. S. 247
[xi]
Bis 1946 abgekürzter Name des Russischen Innenministeriums; später MWD[xii]
zit. in Gert Heidenreich, Magda - Finis
tertii imperii, Theaterstück; München 1993 (Piper Verlag)
[xiii]
Artikel 27, 1968
[xiv]
später Fünf Tage im Juni, C.
Bertelsmann, München/Gütersloh/Wien 1974;
Erstveröffentlichung in der DDR: Buchverlag Der Morgen, Berlin 1989
[xv]
Fuld, a.a.O. S. 286
[xvi]
heute: Katholische Bundesarbeitsgemeinschaft Jugendschutz e.V.[xvii]
vgl. http://www.steigerlegal.ch/2012/06/04/buchhandel-risiko-buchzensur-bei-kritischen-inhalten/[xviii]
Gert Heidenreich, Parteipropaganda als
Dokumentation – Wie ein Schriftsteller zum Ferkel erklärt wird; DIE ZEIT 13.6.1969
[xix]
Fuld, a.a.O. 297
[xx]Der Spiegel, 35/1972, S. 15
[xxi]
Gert Heidenreich, Die ungeliebten Dichter
– Die Ratten- und Schmeißfliegen-Affäre, Frankfurt (Eichborn Verlag) 1981
[xxii]Der Spiegel, 8.12.1980, S. 16f
[xxiii]
Goldene Verdienstmedaille des Bayerischen Rundfunks, 2005
[xxiv]
Fuld, a.a.O., S. 116
[xxv]
Fuld, a.a.O, S. 178
[xxvi]
http://www.cras-legam.de
[xxvii] Journalisten helfen Journalisten e.V.
www.journalistenhelfen.org
Rede, gehalten am 22.6.2012 in der Evangelischen Akademie Tutzing