Das
Eigentümliche an der Kultur ist, dass jeder gern darüber spricht und glaubt,
dass er sie hat, zugleich aber meint, für ihr Bestehen nicht unbedingt den
letzten Einsatz riskieren zu müssen. So kommt es zur Dürrenmatt'schen Sottise,
Kultur sei die "Petersilie auf dem Karpfen".
Dürrenmatt
beschrieb damit aber nicht die Kultur, sondern ihr öffentliches Verständnis. Genau
gesagt: Ihre Verwaltung in der Öffentlichkeit. Da ist sie ein Schmuck, der auch
teuer sein darf, wenn es uns gut geht. Mit ihrer Bedeutung hat das nichts zu
tun.
Die
Bedeutung der Kulturfähigkeit des Menschen wird seitens der Anthropologie nicht
mehr in einem luxuriösen Überschuss der Evolution gesehen, sondern als ein entscheidender
Faktor im evolutionären Prozess, ja sogar als Reproduktionsvorteil. So
betrachtet sind wir Kultur, bestehen wir aus Kultur und überleben wir durch
Kultur. Es gibt zu ihr keine Alternative.
Üblicherweise
grenzen wir den Begriff auf das ein, was wir im engeren Sinn darunter
verstehen: Kunst und Kulturtechniken, die sich mit dem Begriff der Bildung
verbinden.
Das
letzte Jahrhundert hat zu Einwänden gegen den Wert der Kultur geführt: Wie
konnte ein Kulturvolk wie das Deutsche die exemplarische Barbarei des
Zwanzigsten Jahrhunderts errichten? Da hat doch die Kultur versagt und ihre
Bedeutungslosigkeit erwiesen...
Ein
verbreiteter Irrtum, in dem eine Erkenntnis verpackt ist. Dass Hitler über
Hölderlin gesiegt hat, lag nicht an Hölderlin. Es lag an denen, die Hölderlin
preisgegeben haben, um Hitler akzeptabel zu machen. Ein Fall von kultureller
Selbst-Korrumpierung im Volksmaßstab, die wiederum die Vorraussetzung war für
die kollektive Preisgabe ethischer Normen.
Kultur
und Bildung sichern dem Einzelnen nicht a
priori die richtige sittliche und politische Entscheidung. Im Gegenteil:
Sie fordern zu kritischer Bewertung heraus. Kultur verlangt Entscheidung und ersetzt sie nicht.
Dass
Barbarei sich durch Kultur nicht aufhalten lässt, ja dass sie oft sogar miteinander
auskommen, ist vielfach geschichtlich belegt. Denn der Gegensatz zur Barbarei
ist nicht die Kultur, sondern die Zivilisation. Darum kommt alles darauf an,
dass wir zivile Zustände in den Köpfen und in der Gesellschaft erhalten.
Was mit
Kunst in der Barbarei geschieht, ist hinlänglich bekannt. Sie wird in Dienst genommen
und erstarrt. Sie büßt somit die Essenz ein, von der sie lebt: Ihren
prozessualen, ihren dialogischen, mithin unfesten Charakter.
Sehr
verkürzt kann man sagen: wenn Kultur generell die Suche nach Möglichkeiten ist,
mit der Welt umzugehen, dann ist die Kunst Suche nach eigenemAusdruck für die
Deutung der Welt. Sobald individuelle Ergebnisse solcher Suche sich so weit
durchsetzen, dass sie zu allgemeiner Anerkennung gelangen, also Kultur werden
im Sinne von gemeinschaftlicher Vereinbarung, beginnt das individuelle Suchen
von neuem, so dass lebendige Kultur ein permanenter Prozess ist, der sich
speist aus dem Überholen einer Lebenstechnik und Weltdeutung durch eine jeweils
bessere oder zumindest andere und aus der Behauptung des eigenen Ausdrucks
gegen den allgemeinen, den man auch Tradition nennt.
Anders
gesagt: im dialogischen Prozess der Kultur, und nur als solcher ist sie
sinnvoll zu denken, kommt es auf das Individuum und auf die kollektive Adaption
in gleichem Maße an. Sowohl die
individuelle kulturelle Arbeit, als auch die kollektive Aneignung und
Verwandlung setzen Menschen voraus, die fähig sind, in diesem Prozess kritisch
zu handeln. Sind sie dies nicht, jubeln sie Scharlatanen zu und halten
geschickt inszenierte Aufmärsche für einen Ausdruck von Kultur, wie ein
russisches Sprichwort sagt: "Wenn die Fahne flattert, steckt der Verstand
in der Trompete."
Kultur
macht das Leben nicht bequem, sondern unruhig. Schönheit ist ebenso beunruhigend
wie das Grauen, sonst hätte Rilke nicht vor dem Delphischen Apoll erschrocken festgestellt:
"Du musst dein Leben ändern!" Kultur verweist uns auf den prozessualen
Charakter des Lebens und braucht zugleich Individuen, die dazu fähig sind, in
ihr keinen ewigen Wert, sondern den Dialog zu entdecken, den wir beispielsweise
in der Kunst durch Jahrhunderte, sogar Jahrtausende führen können: Wenn wir uns
darauf einlassen, finden wir, dass ein Kunstwerk, ganz gleich wie fern uns seine
Entstehung liegt, in einen gegenwärtigen Dialog mit uns tritt.
Wer sich
auf solche Dialoge einlassen will, bedarf dazu einiger kultureller Voraussetzungen.
Deshalb
ist Kultur mit Bildung auf Gedeih und Verderb verschwistert. Zumindest seit der
Aufklärung, deren Segen ihren Schrecken doch überwiegt, ist unsere Kultur ohne
Bildung nicht mehr denkbar.
Wie sieht es heute damit aus?
Wir
haben, grob gesagt, starke Bildungsinstitute ohne Kultur. Das liegt weder an
den Lehrenden, noch an den Lernenden. Es liegt an dem grotesk falschen
Verständnis von Bildung, das sich in der Wissensgesellschaft durchgesetzt hat.
Bildung als Konditionierung auf die Praxisbedürfnisse des Staates und seiner
Wirtschaft führt zu einer, wenngleich nicht schädlichen Anhäufung von Wissen und
Techniken zum Wissenserwerb. Niemand leugnet, dass angelernter Inhalt nicht nur
sich selbst repräsentiert, sondern auch den Vorgang des Lernens als einer
geistigen Erfahrung.
Unter
der Perspektive der Kultur allerdings ist das keine Bildung des Menschen, denn
seine hinreichende Ausstattung mit Instrumenten und Informationen setzt ihn
noch nicht instand, entscheidungsfähig zu sein, möglichst autonom sein Leben zu
gestalten und die Voraussetzungen allgemeiner Menschenwürde anzuerkennen.
Bildung ist die Verwandlung geistiger Erfahrung in lebendiges
Bewusstsein – Bewusstsein im Sinne von Vorbereitung auf das Leben und von Bestimmung
des eigenen Selbst im komplexen Gefüge aller anderen, also bildlich gesprochen:
den eigenen Ort in der Welt zu finden und zu verstehen. Genau das ist offenbar
kein Ziel der Pädagogik mehr – die Inhalte, die dafür nötig wären, werden
zurückgedrängt zugunsten anderer Curricula, deren unmittelbar nützliche
Anwendbarkeit im Berufsleben hervorgehoben wird. Der trainierte Mensch, der
dabei entsteht, hat als Idealbild der sogenannten Informationsgesellschaft den
gebildeten Menschen abgelöst.
Eine Entwicklung, die ich nicht nur für falsch halte. Sie stellt eine
Beschädigung der jungen Menschen dar. Warum?
Ich will es am Beispiel der Literatur erläutern. Häufig stoße ich in
Schulen, bei Lesungen vor Deutschleistungskursen
– schon dieser Trainer-Titel erzeugt einen Abwehrreflex – auf Abiturjahrgänge,
die erstaunlich wenig für ihr Fach gelesen haben, aber über ein ebenso verblüffendes
wie überflüssiges germanistisches Fachwissen verfügen. Manche können eine Tautologie von einem Pleonasmus und diesen von einem Hendiadyoin unterscheiden, kennen aber
keine Ballade, haben so gut wie nie ein Theaterstück ganz gelesen, oft nur
einen Roman, mehr oder weniger vollständig; doch man hat ihnen die
strukturellen Unterschiede der literarischen Gattungen und die Schubladen der
Literaturepochen beigebracht. Manche wurden mit falschen Texten für die Poesie
verdorben, weil es Lyrik gibt, die man erst begreift, wenn man selbst ein paar
Lebensabgründe durchschritten hat. Bedeutende Werke kennen viele nur in
Auszügen oder gar aus vorgefertigten Interpretationen. Freilich gibt es
Gegenbeispiele: Wie überall hängt es auch hier von der Person des Lehrers ab,
ob sich die Begeisterung für sein Fach auf die Schüler überträgt. Überwiegend
aber tritt eine rudimentäre Literaturwissenschaft an die Stelle von
Literaturerfahrung. Das ist gleichbedeutend mit der Zerstörung der Phantasie.
Von der lebenspraktischen Nutzanwendung solcher Germanistisierung des
Deutschunterrichts bin ich nicht überzeugt. Schlimmer, viel schlimmer, ist
etwas anderes – und dies greift über das Fach weit hinaus in den Bereich der Lebenskultur.
In unserer Gesellschaft können wir – und dies ist ein wahrhaft hoch
einzuschätzender Gewinn – Wissen so leicht, so vielfältig und so umfänglich wie
noch nie zuvor in der Menschheitsgeschichte erwerben und verwenden. Das
Internet ist, neben seinen scheußlichen Seiten, der neue Reichtum, der allen
verfügbar ist. Das meiste, was heute in der Schule informatorisch gelehrt wird,
lässt sich im Netz abfragen, und wenn man gelernt hat, kritisch zu fragen und skeptisch
und flexibel mit den Angeboten umzugehen, erhält man richtige und nützliche
Antworten. Zumal Wissen dort überwiegend auf neuestem Stand ist, das in den
Schullehrplänen oft noch nicht aktualisiert wurde.
Was sich in der gigantischen Informationsbank aber nicht lernen lässt,
ist der Umgang mit den eigentlich bedeutenden, tiefgreifenden, schwierigen
Vorfällen des Lebens, die auf jeden von uns unausweichlich zukommen. Liebe und
Trauer, Eifersucht und Verlust, Abschied und Enttäuschung, Krankheit und
Beschädigung, Barmherzigkeit und Mitmenschlichkeit, Mut vor Autoritäten und
Todesangst.
Auf diese Situationen bereitet die heutige Schule so gut wie nicht vor.
Dabei liegt das Material dafür in unbegrenzter Menge bereit: Es ist die Literatur.
In ihr und in den ihr verwandten Künsten Theater und Film lässt sich mittels
der Phantasie antizipierend die eigene Empfindung, die eigene Entscheidung an
der Stelle der scheiternden oder siegenden Helden erfahren und prüfen. In
unserer Phantasie versetzen wir uns in die Lage der fiktiven Personen und
lernen, indem wir gleichsam mit ihnen leben, ihre Art der Konfliktlösung
kennen; wir erleben ihre Niederlagen, ihre Erfolge, ihren Untergang, ihre
Erlösung. In der Literatur ist dieses Wissen der Kulturen über Jahrtausende
unter dem Begriff „Schicksal“ versammelt – und nirgendwo sonst erfahren wir so
intensiv, dass wir mit den entscheidenden Klippen in unserem Leben nicht allein
sind, sondern dass sie schon immer zu den schmerzlichen und schönen Bedingungen
menschlichen Seins gehört haben.
Mit solchen Grundereignissen, die uns anfangs immer überfordern, so umgehen zu können, dass wir
authentisch bleiben und nicht hilflos und ratlos überwältigt werden, wenn sie
eintreten, lässt sich üben: In der Fiktion, in der Kunst. Natürlich ist das
Scheitern das größere Thema in der Dichtung, gehört die Erlösung eher in den
Bereich der Religion. Die Literatur ist ganz so, wie wir Leser sind: Das Gute
bewegt uns, aber das Böse hat unser Interesse, die Abgründe sind faszinierender
als die Brücken. Auch erschöpft sich die Literatur nicht in ihrer Funktion als
Übungsraum für unsere Vorahnung des Schicksals, ich rede ja hier noch nicht von
Kunst. Aber die Möglichkeit, tief verstörende Konflikte, noch bevor sie sich
für uns ereignen, am Leben der literarischen und biblischen Gestalten gleichsam
spielerisch und auf einer noch nicht existentiellen Ebene seelisch durchleben
zu können, bereitet uns – davon bin ich fest überzeugt – besser auf das
Erwachsensein vor als jede akkumulierte Quantifizierung der Welt. Vor allem das
Wissen um den Zusammenhang unserer Existenz mit der anderer Menschen, seien sie
auch fernen Zeiten und Kulturen zugehörig, wird das besonders in der Pubertät
häufige Gefühl der Vereinsamung mildern. Das Reich der Phantasie kann auf diese
Weise in späteren Jahren unter Umständen Leben retten. Kindern und Jugendlichen
dies nicht zu vermitteln, heißt sie zu beschädigen. Antrainierte Information
ist dafür kein Ausgleich. Es ist, als ob man den jungen Menschen, bevor man sie
ins Leben entlässt, großartige Werkzeuge in die Hände drückt, zehn „Tools“ an
jedem Finger, ihnen aber zugleich ein Bein amputiert. Sollen sie doch ins Leben
hüpfen, es gibt ja Geh-Hilfen an jeder Ecke, Hauptsache, sie können mit ihren
Fingern die Wirtschaft profitabel steuern...
Ich kenne den Einwand, dass es immerhin Ethikunterricht gebe. Ich habe
nichts gegen Ethikunterricht, auch nichts gegen Religionsunterricht. Aber
niemand kann mir einreden, dass eine theoretische Erörterung der Frage, ob das
Gesetz des Staates höher stehe als das sittliche Gesetz in mir selbst, ebenso
fesselnd und für junge Menschen nachvollziehbar gestaltet werden kann, wie dies
in der Antigone des Sophokles
geschieht. Von jener jungen Frau, die ihr Gewissen der Staatsmacht
entgegensetzt, beträgt die Zeitstrecke zu Sophie Scholl und der „Weißen Rose“
2.400 Jahre, die Ideenstrecke ist winzig, der Konflikt bleibt unvermindert
aktuell. Hier wird auf ganz andere Weise Auseinandersetzung provoziert und
Stellungnahme abgefordert als bei der Erörterung des Kategorischen Imperativs
von Immanuel Kant. In einem solchen Prozess erworbene Bildung meinte Demokrit
von Abdera vor zweieinhalbtausend Jahren, wenn er feststellt:
"Bildung ist den Glücklichen Schmuck und den Unglücklichen
Zuflucht." Auch diesen Satz macht die historische Distanz heute nicht
weniger zutreffend als seinerzeit.
Dass die Bedeutung der Bildung jungen Menschen, die von Angeboten zur
Ablenkung umschrien werden, nicht einfach vermittelt werden kann, ist bekannt.
Bildung war noch nie einfach, nur jetzt scheint sich einerseits eine Tendenz
abzuzeichnen, die der Mühelosigkeit einen besonderen pädagogischen Wert
beimisst, andererseits wird immer mehr Stoff in immer kürzere Lernzeiten
gepresst. Und das in einer Gesellschaft, die im Zeitvertreib ein Lebensziel und -Glück sieht und die immenses Geld
und ein erstaunliches Maß an Phantasie dafür aufwendet, den Menschen von sich selbst
abzulenken und ihm dabei das Gefühl zu vermitteln, erst in der Ablenkung sei er
ganz bei sich selbst. Die legitime Absicht von Unterhaltung, nämlich Entspannung,
wandelt sich in der Zeitvertreibindustrie von einer Pausengestaltung zum
Dauerzustand, dessen Folge nicht Erholung, sondern Bewusstseinslosigkeit ist.
Dennoch sollte der Schule möglich sein, zu klären, dass beim
Zeitvertreib Lebenszeitvertrieben wird, und zwar im wörtlichen
Sinn; dass es trotz der Nachmittagsserien des Fernsehens noch immer einen
Unterschied zwischen Komödie und Klamauk gibt; dass jugendlicher
Sängerwettstreit in den Medien nicht der Befriedigung von Sehnsüchten dient,
sondern ihrer ausbeuterischen Vermarktung; dass das Lesen von Literatur nicht
nur gut tut, weil die Gehirnforscher es dringend empfehlen, sondern weil wir
dabei Gegenwelten erfahren; dass der alte Grundsatz, nicht für die Schule, sondern
für das Leben zu lernen, nicht die Zurichtung für den Arbeitsmarkt meint,
sondern tatsächlich das ganze Leben; dass Kultur in den Bildungsinstitutionen
etwas mit Kultivieren zu tun hat; und es schadet nicht, dabei an den Ursprung
des Wortes, das lateinische colere zu
denken, das nicht nur pflegen, sondern auch pflügen
heißt. Dabei geht es nicht darum, nette Muster in den Sand zu kratzen. Es geht
darum, dass Pädagogik sich selbst wieder ernst nehmen darf und Lehrer nicht als
‚Infotrainer’ missbraucht werden.
Was hier so klingen mag, als räsonniere ein Nöckergreis und klage
überholte Bildungswerte ein, ist möglicherweise ein fortschrittliches Plädoyer.
Selten wurde in der Neuzeit öffentlich so viel über das Glück geschrieben und
gesprochen wie in unserem Jahrzehnt. Fast schien der Begriff ganz der Werbung
anheimgefallen, die ihn mit Geld und Gegenständen verklebte. Inzwischen wird
darüber fast so viel, wenn auch nicht so gründlich nachgedacht wie in den
dreihundert Jahren zwischen Epikur und Epiktet, und die Erörterung der nötigen
Ingredienzien zum Lebensglück ernährt die neuen Autoren besser als einst die
Philosophen. Doch anders als bei jenen steht Lebenskunst gegenwärtig nicht an
vorderster Stelle, denn zu ihr gehören Erkenntnis und Bewertung der Welt, in
der ich lebe, und solche wiederum setzen ein gewisses Maß an Bildung voraus.
Unsere arbeitsteilige Gesellschaft hingegen hat für nahezu alle Wechselfälle
des Lebens Beratungszentren und Service-Angebote geschaffen. Die
Lebenshilfe-Buch-Produktion ist beeindruckend; von der alltäglichsten
Verrichtung über die komplizierten Fragen der Liebe bis hin zu empfehlenswerten
Variationen des Ablebens können wir uns, wenn wir dies als wünschenswert empfinden,
auf andere verlassen. Kein Wunder: Je mehr ein Teil der Mediengesellschaft die
Betäubung als Ziel sieht, um so dringlicher muss dort Service angeboten werden,
wo Betäubung nicht mehr ausreicht.
Nun ist gegen Hilfe ist gar nichts einzuwenden. Wir müssen uns nur bewusst
sein, dass eine Kultur aus Zeitvertreib und Service die Autonomie des
Individuums nicht fördert, sondern für überflüssig, ja eigentlich für geschäftsschädigend
hält.
Für die kulturelle Vorstellung des emanzipierten Menschen gilt das
Gegenteil. Notwendigerweise muss er im Besitz einiger Erfahrungen, und seien es
angelesene, sein, die ihn befähigen, möglichst autonom zu handeln und kritische
Distanz zu den Angeboten seiner Gegenwart zu wahren. Er sollte seine Urteile
nicht geliehen haben, sondern herleiten können. Er sollte immerhin so viel selbst vernetztes Wissen verfügbar
haben, um Entscheidungen treffen zu können, die auch späterer Begründung
standhalten. Mit anderen Worten, er sollte ein Bewusstsein von sich selbst
innerhalb der dialogischen Kultur und von der Vorläufigkeit seiner Ansichten
und Einsichten haben. Nicht zuletzt gehört wohl zum gebildeten Menschen, dass
er seiner Vernunft nicht Absolutheitsanspruch einräumt, denn einige überlebensnotwendige
Maximen und sittliche Imperative sind rational nicht begründbar:
Barmherzigkeit, Nächstenliebe, sogar die Menschenrechte sind keine Ergebnisse
von Wissenschaft. Der polnische Philosoph Leszek Kolakowski, nach eigener Auskunft
ein „ konservativ-liberalen Sozialist“, hat
darüber, zugespitzt, gesagt: „Die moderne Chimäre, die dem Menschen totale Freiheit
von der Tradition oder jeglichem vorexistentem Sinn verspräche, (...) schickt
ihn in eine Finsternis, in der alles mit gleicher Gleichgültigkeit betrachtet
wird. Das utopische Vertrauen in die Fähigkeit des Menschen, sich selbst zu
erfinden, die utopische Hoffnung auf grenzenlose Perfektion könnte das
wirkungsvollste Instrument des Selbstmords sein, das die menschliche Kultur je
geschaffen hat.“
Die Fähigkeit, jede Maxime, sei sie eigener Einsicht entsprungen oder einem
allgemein vereinbarten Canon entnommen, stets auf ihr Menschenmaß, ihre
Gemäßheit überprüfen zu können, setzt eben jene nicht nur rationale Bildung
voraus, die, wie eingangs gesagt, aus der Verwandlung von Wissen in Bewusstsein
entsteht. Die Entscheidung, nichts als ein Absolutum anzuerkennen, das sich
selbst dazu erklärt – beispielsweise alleinseligmachende Ideologien und
Religionen – ist natürlich zugleiche eine der Voraussetzungen von Freiheit.
Ich will die Freiheitsfrage hier nicht erörtern, nur so viel: Eine
Gesellschaft, in der sich die Idee der persönlichen Freiheit vorrangig ans Geld
bindet, verliert möglicherweise den Blick auf die geistige Unabhängigkeit und
die Autonomie des Individuums, die, wie ich glaube, einzig durch Bildung erreichbar
ist. Die Demokratie, die stets um so mehr beschworen wird, je mehr sie ins
Ungefähre gerät, ist vermutlich mehr als alle anderen politischen
Organisationsformen darauf angewiesen, mehrheitlich von gebildeten Bürgern
gestaltet zu werden; nicht nur, weil ungebildete Wähler leichter von Populisten
überzeugt werden, sondern vor allem, weil Demokratie sich zu ihrem Überleben in
einem ständigen Prozess der Mängelkorrektur befinden muss, anders gesagt: in
permanenter Revision. Wie aber soll dies gelingen, wenn nicht die
entscheidenden Mehrheiten in der Lage sind, sich bessere Alternativen zum
gegenwärtigen Bestand auszudenken. Bildungslose Bürger wünschen sich meist nur
eines: Das Ende aller Komplikationen. Dieser Wunsch führt, realisiert, in die
Totalkomplikation, die man auch Katastrophe nennt.
Ich bin zuversichtlich, dass unsere Gesellschaft diese Zusammenhänge,
wenn nicht erkennt, so doch spürt und auf diese Weise dann auch wahrnimmt. In
unserer freiheitlichen Gesellschaft mit ihrer Fülle von Medien sind die
Einflüsse von veröffentlichten Informationen und Meinungen so komplex, dass wir
die Wirkungen und Wechselwirkungen von Kommunikation längst nicht mehr
definieren oder gar klassifizieren können. Inzwischen ist kein
generationenübergreifender Vorrang bestimmter Multiplikatoren mehr auszumachen.
Was für die einen die Tagesschau,
sind für die anderen längst Blogs und
Twitter und Facebook. Nachrichten-Apps
auf dem iPhone ersetzen für eine
beträchtliche Menge sogenannter User die Tageszeitung. Digitale Enzyklopädien
werden weitaus häufiger genutzt als vormals die gedruckten. Und wenn einst beim
Aufschlagen des Lexikons an der falschen Stelle, wo man sich vielleicht
festlas, der Bildungsvorteil des schönen Umwegs den Leser bereicherte, so ist
heute die Menge der Links in einem Artikel eine sehr viel größere Versuchung,
die eigene Suche auszuweiten. Das kann, wer Bildung schätzt, nur begrüßen.
Sowohl freie Organisation von privaten Bildungszirkeln und
-vereinigungen, Kulturinstituten und Diskussionsforen im Internet, als auch die
deutliche Zunahme von Dokumentationen zu Geschichte, Naturgeschichte und
Geistesgeschichte in diversen Fernseh- und Rundfunkprogrammen können darauf hin
deuten, dass Inhalte, die von den Ausbildungsinstitutionen zugunsten der Konditionierung
vernachlässigt werden, gleichsam auf den freien Markt ausweichen. Für die
dialogische Kultur ist das ein Prozess, der möglicherweise erfolgreicher ist,
als wir messen können. Leider wird das Angebot überwiegend von Bürgern über
Fünfzig wahrgenommen.
Der Jungen Generation wird gern angepasstes Verhalten unterstellt. Die
Demonstrationen der Studenten haben eine andere Jugend gezeigt. Gegenüber einer
Politik, die offensichtlich die Normierung von Prüfungsabläufen für wichtiger
hält als die sinnvolle Gestaltung des Bildungsprozesses, hat diese Jugend das
richtige Bedürfnis zum Ausdruck gebracht: Bildung wieder mit Umfänglichkeit, Entscheidungsfreiheit
und Entscheidungsfähigkeit zu verbinden.
Sie dafür als "gestrig" zu beschimpfen, wie die damalige und
jetzige Bundesbildungsministerin Annette Schavan es bei den ersten
Demonstrationen von Schülern vor einem Jahr tat, ist absurd. Im Gegenteil:
Diese Jugend spürt, dass sie nicht ausreichend auf die persönlichen und
gesellschaftlichen Konflikte vorbereitet wird, die auf sie zukommen. Und sie
fordert diese Vorbereitung ein. Präzise heißt es auf den studentischen
Transparenten: „Wir demonstrieren für bessere Bildung!“ – nicht für bessere Ausbildung...
Die Reaktionen der politisch Verantwortlichen zeigen bisher ein Ausmaß
an Unverständnis, das allenfalls mit Betriebsblindheit zu erklären, keineswegs
aber zu rechtfertigen ist. Als ginge es darum, ein paar trotzigen Kindern
entgegenzukommen, wird, wie Kastanien in der Wildfütterung, eine leichte
Erhöhung des Bafög hingeworfen. Da
und dort meinen Kultusminister, sie könnten mit dem Versprechen, Lernstoff zu
vermindern, Ruhe erkaufen. Die Kanzlerin erklärt vor dem deutschen Parlament: „Bildung ist mehr denn je
der Rohstoff der Deutschen“, und der Bundestag applaudiert, statt in
sardonisches Gelächter auszubrechen. Die Formulierung „mehr denn je Rohstoff
der Deutschen“ lässt sich nur als kurios deuten, denn einerseits behauptet Frau
Merkel, wir lebten noch mehr von Bildung als einst von den Rohstoffen Kohle und
Eisenerz, andererseits unterstellt sie, wir selbst bestünden aus Bildung, und
zwar „roh“ – was nun offensichtlich unsinnig ist. Denn Bildung im klassischen
Sinn ist Veredlung des Menschen, Befreiung aus seinem Rohzustand.
Unfreiwillig enttarnt die Formulierung ein Verständnis von Bildung,
das ins Regierungskonzept passt: „Rohstoff“ nämlich enthält keinen Mehrwert.
Und was in unserer Gesellschaft keinen Mehrwert hat, ist eben nicht mehr wert
als Rohstoff...
Es fällt leicht, solche fahrlässigen Dummheiten aufs Korn zu nehmen.
Schlimm ist, dass sie als Parolen einer Politik dienen, die den Mehrwert der
Bildung für die Demokratie schlicht nicht begreift. Mit solchen Formeln lassen
sich die Studenten, man ist versucht zu sagen: Gott sei Dank, nicht abspeisen.
Die jungen Frauen und Männer, die derzeit in ihren Universitäten und auf
öffentlichen Straßen und Plätzen auf ihre Lage aufmerksam machen, haben
offenbar begriffen, worum es in ihrem Leben gehen wird: um Flexibilität im
Denken, die Fähigkeit zur Entscheidung und nötige Skepsis, um den
Lebenszusammenhang innerhalb ihrer Kultur, Neugier und permanenten Blick übern
Tellerrand, Freude am Wissen, Verantwortung für sich selbst und um wichtige emotionale
Grundlagen für ein gelungenes Leben. Stattdessen erfahren sie, dass sie für
einen Arbeitsmarkt konditioniert werden, der dann, wenn sie ihn erreichen,
längst andere Voraussetzungen haben wird.
Es ist lehrreich für einen sogenannten Altachtundsechziger wie mich,
einer Studentenversammlung in einer besetzten Universität zuzuhören. Ich hatte
die Gelegenheit im Audimax der Ludwig-Maximilian-Universität in München.
Selbstverständlich war es ein Deja-vu. Und doch wieder nicht. Diese Studenten
heute verfügen über eine bessere Diskussionskultur. Wo wir ausgebuht oder
zugejubelt haben, herrscht hier eine fast lautlose Zeichensprache, mittels
derer ständig Zustimmung, Ablehnung, Kritik und Einwand geäußert werden –
während die Rede hörbar bleibt.
Natürlich hat auch diese Generation Schwierigkeiten, die eigenen Ziele
treffend zu formulieren. Wo die 68er seinerzeit versucht haben, dieses Land für
sich geistig bewohnbar zu machen, geht es heute darum, das Land lebenswert zu
erhalten. Und welche Aufgabe wäre angemessener für eine Generation, die jetzt
anfängt, sich zu orientieren?
Man soll die jungen Menschen nicht anlügen, indem man behauptet, sie
hätten derzeit durch unser Bildungssystem gute Aussicht auf ein gelungenes
Leben. Man soll nicht versuchen, sie mit ein paar Häppchen weniger Lernstoff
und etwas mehr Geld stillzustellen. Man sollte nicht, wie die Bundesministerin
Schavan, Polizeieinsätze gegen Universitätsbesetzer gutheißen und zugleich auf
Ermüdung der Proteste spekulieren. Solche Arroganz treibt die Jugend am Ende
auf die Barrikaden.
Auch dazu hat übrigens Demokrit schon zutreffend gesagt: "Es gibt
Verstand bei den Jungen und Unverstand bei den Alten. Denn nicht die Zeit lehrt
denken, sondern eine frühzeitige Erziehung und Naturanlage."