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DAS NETZ, DER KOPF UND DAS GLÜCK
Über die notwendige Langsamkeit der Bildung

©Gert Heidenreich    

Manchmal ist es nicht falsch, auf sehr alte Geschichten zurückzugreifen, wenn man versucht, sich die Gegenwart und ihre mögliche Zukunft zu erklären. Da gibt es ein Ereignis im Alten Testament, in dem vordergründig von Gold und Sünde, eigentlich jedoch von der Ungeduld die Rede ist. Da riss alles Volk sich die goldenen Ohrringe von den Ohren und brachte sie zu Aaron. Und er nahm sie von ihren Händen und bildete das Gold in einer Form und machte ein gegossenes Kalb. Und sie sprachen: Das ist dein Gott, Israel, der dich aus Ägyptenland geführt hat! Mögen die Parallelen zur zügellosen Geldgier unserer Jahre, die in die allenthalben bedauerte Krise geführt hat, auf der Hand liegen, wenn man liest, wie das Volk dem goldenen Götzen das Kostbarste opfert, was es hat: seine Hoffnung. Eine mindestens ebenso bedenkenswerte Botschaft des Textes aber liegt in der unmittelbaren Vorgeschichte des Tanzes ums Goldene Kalb, nämlich in der Herleitung des Sündenfalls. Im 2. Mose, Exodus, 32, heißt es: Als aber das Volk sah, dass Mose ausblieb und nicht wieder von dem Berg zurückkam, sammelte es sich gegen Aaron und sprach zu ihm: Auf, mache uns einen Gott, der vor uns her geht. Einfach gesagt: Sie konnten nicht abwarten, bis Moses mit den Gesetzestafeln unterm Arm wiederkehrte. Sie wollten die Erlösung jetzt und sofort. Was daraus wurde, ist bekannt: Moses zerbricht die Gesetzestafeln, Gott muss neue schreiben und in zähen Verhandlungen davon abgebracht werden, am Volk der Israeliten seinen Zorn auszulassen.
   Der Tanz ums Goldene Kalb ist zur kritischen Metapher für die Verabsolutierung materieller Werte geworden. Wovor die Geschichte warnt, ist aber mehr als nur die Verherrlichung des Mammon. Sie handelt von Menschen, die nicht genug Vorstellungsvermögen und nicht genug Geduld haben, um sich auf die Gesetze, sprich: die nötigen Regeln einer für alle bekömmlichen Gesellschaft einzulassen. Ihr Problem ist, dass sie nicht verstehen, was auf ihrem Exodus eigentlich vorgeht; dass sie auf den ungeheuren Wandel, der ihnen durch die Zehn Gebote bevorsteht, nicht vorbereitet sind. Diese Leute haben offensichtlich ein Bildungsproblem, das lebensgefährlich ist. Sie haben nicht gelernt, die eigene Lage kritisch zu reflektieren und daraus sinnvolle, das heißt verantwortbare Folgerungen abzuleiten. Stattdessen wenden sie sich zurück und unterwerfen sich einem selbst geschaffenen Götzen.
    Sie merken, wohin uns dieser kleine exegetische Ausflug führt: In unsere Gegenwart und ihre Götzen. Einiges spricht dafür, dass wir das Vorspiel einer ebenso ungeheuerlichen Veränderung erleben, wie sie damals den Israeliten widerfuhr, und dass wir auf die gewaltigen Verwerfungen und Verschiebungen in den Weltgewichten, auf den Verlust sicher geglaubter Vereinbarungen und den möglichen Gewinn neuer Perspektiven geistig und seelisch ebenso schlecht vorbereitet sind, wie es damals das Volk war, das in eine ungewisse Zukunft ging. Das klingt kulturpessimistisch, aber wenn ich eine Hoffnung in unserer Lage habe, dann ist es die Fähigkeit des Menschen zur Kultur, die Kraft der Kultur für den Erhalt der Zivilisation. Ich bin ein Kulturoptimist bis an die Grenze der Fahrlässigkeit. Zugespitzt: Ich setze auf den Kern jeder Kultur seit der Aufklärung: auf Bildung. Und schon stellt sich die Frage: Welche Bildung, welche Inhalte, wie gewertet, wie vermittelt, mit welchem Ziel oder gar Zweck. Keine pädagogische Antwort aus den fünfziger, siebziger oder neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts scheint mehr zu passen. Vielleicht muss man auch hier noch sehr viel weiter zurück greifen.  
    Glücklicherweise haben wir das Netz. Es wird uns schon sagen, ob vielleicht Aristoteles klüger war, als wir es zurzeit sind. Das Netz ist die zentrale Metapher der vergangenen zwei Jahrzehnte, in denen wir gelernt haben, uns als verknüpfte Wesen und die Welt als Flechtwerk einander überlagernder Handels- und Kommunikationsnetze zu sehen. Wir denken Netz. Wir leben Netz. Wir haben Netzwerke und Netzagenturen, sprechen von neuronalen und mobilen Netzen. Die Bordcomputer unserer Autos werden zum Zweck der Unfallvermeidung miteinander vernetzbar, und die Waffenindustrie arbeitet an tödlichen Drohnen, die als Schwarm über das Ziel herfallen und sich wechselseitig so informieren, dass jede weiß, welche Zerstörungsaufgabe die andere schon erledigt hat. Das Netz trägt und fängt, es informiert und kontrolliert, späht aus und verleiht Macht, es definiert menschliche Existenz oder versucht es zumindest: Wer keine Netzadresse hat, scheint nicht in der Welt zu sein, wer sein Gesicht nicht an facebook verkauft und nicht dem niedlichen Twittervögelchen seinen banalsten Alltag als Tweet anvertraut, gerät in Verweigerungsverdacht. Das Netz erklärt die Nichtnutzer zu Nichtsnutzen. Andererseits: Was wüssten wir ohne Twitter über den Aufstand der Syrer gegen den Massenmörder an der Spitze ihres Staates? Das Netz ist unschuldig – wie ein Messer. Es wird geliebt, gehasst, gefürchtet, bewundert und zum Teufelszeug erklärt, das uns angeblich verdummt, entmündigt und entwürdigt. Das Netz fasziniert – wie der Apfel vom Baum der Erkenntnis. Vor allem aber ist es nahezu überall verfügbar und jedem Nutzer-Willen gefügig.
    Ein derartiges Weltinstrument hat es in der Geschichte der Menschheit nie zuvor gegeben; es beeinflusst unseren Alltag mehr, als es die katholische Kirche in ihren höchsten Machtphasen konnte. Entscheidend für seinen Erfolg ist, dass es Freiheit verspricht. Freiheit von Ort und Zeit, Freiheit vom Unwissen, Freiheit von Langeweile und Langsamkeit. Die Kehrseite ist bekannt: Google hat längst zugegeben, dass amerikanische Geheimdienste mehrfach auf das Datenmaterial der Server in den USA und Europa zugegriffen haben. Wer das tut, erhält nicht nur ein paar wichtige Informationen, er greift auf das Spiegelbild der Welt zu. Das Netz behauptet, dezentral zu sein und an jeder seiner Stellen gleichberechtigt. Unsere Web-Adressen, Suchwege, Interessen, Verhaltensweisen, Konsumvorlieben, Hausfassaden, unsere Emailtexte, blog-Kommentare, Fotos und so fort sind jedoch in Servern zusammengefasst; jeder Mausklick hinterlässt dort eine Spur. Wer über die Spurensumme verfügt, hat eine Machtfülle, von der Kaiser Karl V und sein Sohn Philipp II, in deren Reich die Sonne nicht unterging, nur träumen konnten. Das Netz ist ein dienstbarer Geist, so lange wir einigermaßen zivilisierte Zustände haben und die Menschen in der Lage sind, zu wissen, was zivilisiert Sein heißt und wie man es macht.
   Im gegenteiligen Fall, der Barbarei, gnade uns Gott. Ein autoritärer Staat kann sich kein besseres Instrument wünschen. Auch wenn es in gewissem Maße freiheitlichen Widerstand ermöglicht: Keine geheimpolizeilich angelegte Datenbank kann so effektiv sein wie die Summe der über Jahre freiwillig abgegebenen, gespeicherten und miteinander abgeglichenen Persönlichkeitsprofile. Das Netz ist ein Menschensammler, und seine Betreiber sind unersättlich. Seit wir uns im Netz spiegeln, sind Kontrolle der Macht und Rechtssicherheit für das Individuum nicht allein moralisch, sittlich und juristisch wünschenswerte Attribute des freiheitlichen Rechtsstaates. Sie sind unabdingbare Voraussetzungen dafür geworden, dass uns das Netz mehr nutzt als schadet. Alles kommt darauf an, dass es gelingt, diese Voraussetzungen zu erhalten oder herzustellen. Dazu bedarf es einer aufmerksamen Öffentlichkeit, vor allem einer Pädagogik, die junge Menschen für diese Fragen sensibilisiert und ihnen Kriterien vermittelt, nach denen sie den politischen Zustand ihrer Gesellschaft möglichst unvoreingenommen beurteilen können. Wieder sind wir bei Fragen der Bildung, und es geht dabei keineswegs nur um politische Theorie.
   Wenn der Zeitungschef Frank Schirrmacher und der Showmaster Günther Jauch Oberflächlichkeit und Datenmüll beklagen und sich davor fürchten, das Netz könne ihnen ihre humanistische Bildung abfischen, begründen sie ein begreifliches Unbehagen mit einer falschen Vermutung. Denn es ist nicht nur die Größe des Netzes, die unser Leben radikal verändert hat und noch weit mehr verändern wird – es ist vor allem seine steigendes Tempo trotz wachsender Datenmenge. Das Netz hat die Geschwindigkeit zum Fetisch unseres Denkens gemacht, und längst werden unter diesem Fetisch nicht nur Produktionsabläufe auf Kosten der Menschen zeitlich optimiert. Auch die Bildungspolitik will Schulzeit einsparen und gleichzeitig den Stoff, also die Datenmenge, in bestimmten Fächern erhöhen. Leicht zu erkennen, woher das Prinzip Schneller mehr Input stammt: Vorbild ist das Netz. Ich gehöre zur 68er-Generation. Vielleicht wichtiger als die damit verbundenen Hoffnungen und Irrtümer ist, dass ich zur Vor-Fax-Generation gehöre, das heißt: Ich entstamme dem inzwischen unvorstellbar langsamen Briefpostzeitalter. Und heute? Wenn es mir zu lange dauert, ein Dokument per Email zu empfangen, zu bearbeiten und wieder zu mailen, lege ich auf einem Server einen gemeinsamen Ordner mit meinem entfernten Partner an und arbeite mit ihm in einer Cloud gleichzeitig an den Änderungen. Wer sich dabei wo befindet, spielt keine Rolle. Der Zeitverlust durch Übermittlung schrumpft gegen Null. Das heißt: Unsere Erwartung hat sich an einen Zeittakt gewöhnt, bei dessen unerklärter Verzögerung wir sofort den Verdacht haben, dass es irgendwo einen Fehler geben muss, einen Haken, eine Panne.
    Erinnern Sie sich an die Israeliten, die nicht warten konnten, bis Moses mit den Zehn Geboten aus Gottes Schreibwerkstatt zurückkehrte – nach vierzig Tagen, was nicht viel für die Erarbeitung von Regeln ist, die weitgehend unbestritten bis heute Bestand haben? Zeiterwartung und Zeitgefühl, Zeitmanagement und Zeiteinteilung beeinflussen eine Gesellschaft mehr als ideologische Vorgaben oder sozialpolitische Eingriffe. Die Beschleunigung kennt vorerst keine Grenzen. Kaum haben wir uns an den neuen, schnelleren Computer gewöhnt, kommt der doppelt so schnelle Prozessor auf den Markt. Demnächst soll ein neues Internet-Unterseekabel zwischen den Börsenplätzen New York und London verlegt werden, das 300 Millionen Dollar kostet. Es ermöglicht Spekulanten eine um 6 Millisekunden schnellere Verbindung. Trotz der deutlich höheren Nutzungsgebühren werden große Hedgefonds durch die um 6 Millisekunden verkürzte Datenlaufzeit bis zu hundert Millionen Dollar im Jahr mehr verdienen. Verkäufe und Käufe in diesem Tempo können ausschließlich von Computern getätigt werden. Das hat nicht nur technische Ähnlichkeit mit den vorhin erwähnten selbständigen Drohnenschwärmen, an denen die US-Militärindustrie, und gewiss nicht nur sie, arbeitet. Es hat durchaus inhaltliche Verwandtschaft. Von den vernetzten Geldmärkten geht ein Krieg aus, in dem gegenwärtig ganze Volkswirtschaften zugrunde gehen. In kritischen Kommentaren über Spekulanten und Rating-Agenturen ist oft von unersättlicher und verantwortungsloser Geldgier die Rede, so als ginge es nur um den Tanz ums goldenen Börsenkalb. Darum geht es auch, denn offenbar kriegen manche den Hals nicht voll und ignorieren, dass ihre Geldgefräßigkeit auf Teufel komm raus für soziale Unruhen und den davon profitierenden Extremismus verantwortlich ist. Wer die letzten Jahre die Wirtschaftsseiten gelesen hat, kann sich aber eines anderen Eindrucks kaum erwehren: Es geht nicht mehr nur um Geld im Sinne von angehäuftem Reichtum. Die Gier der Spekulanten und Investoren hat sich offenbar darauf gerichtet, sich mittels des Geldes politische Macht anzueignen. Der Gier nach Geld folgt die Gier nach Herrschaft. Wir erleben die Umkehr der Weltreichkonstruktionen, in denen die Erlangung der Macht noch der Geldgier voran ging, die freilich stets auf dem Fuß folgte, manchmal übrigens mit wirtschaftlichen Konsequenzen, die uns bekannt vorkommen: Philipp II. beispielsweise hat für sein Reich mit Dauersonne dreimal den Staatsbankrott erklärt.
   Für den gegenwärtigen Versuch der Kaufleute, sich zu Königen zu krönen, bedurfte es keiner Verschwörung. Rating-Agenturen, die so auftreten, als hätten sie in den vergangenen Jahren alles richtig gemacht, spielen mit dem Schicksal von Staaten, die sich selbst – seinerzeit von denselben Agenturen kräftig ermuntert – durch ungehemmte Schuldenaufnahme zum Spielball der Banken gemacht haben. Die Nationen-Bewerter mussten sich um politische Macht nicht bewerben, sie haben sie von den Regierungen, vor allem der USA und Europas, nachgeworfen und von den Medien bestätigt bekommen. Politische Entscheidungsprozesse in Demokratien sind viel zu umständlich, um den Ratings und rasanten Zinssprüngen im Netz Einhalt zu gebieten. Ein entmündigender und gefährlicher Zustand. Gefährlich vor allem für die Armenhäuser der Welt, denn ein Großteil dortiger Hungersnöte wird durch die Spekulation mit den Grundnahrungsmitteln Mais, Weizen und Reis verursacht –  genau besehen ein weltweit betriebener Völkermord, an dem sich Börsen bedenkenlos beteiligen und die Preistreiber skrupellos bereichern. All dies funktioniert nur mit der noch immer zunehmenden Geschwindigkeit der vernetzten Zahlenströme, die Geld oder Güter bedeuten, aber nicht sind. Das Netz selbst ist daran nicht schuld. Es beschleunigt nur den Verfall politischer Regulierungsmacht und den Aufstieg des Kapitalistischen Fundamentalismus.
   In solcher Lage hört man gehäuft eine Vokabel: Vertrauen. Bezeichnender Weise wird lauthals um das Vertrauen der Märkte gebuhlt. Wie steht es mit dem Vertrauen der jungen Generation in die Fähigkeit der Gesellschaft, lebenswerte Zukunft zu gestalten oder wenigstens zuzulassen? Diese Frage halte ich für vorrangig. Denn diejenigen, die jetzt lernen, sich in der Welt zurecht zu finden, werden einst entweder in einer Gesellschaft leben, in der sie ihre Individualität nach Möglichkeit frei entwickeln können, oder in einer, in der sie biologische, möglichst kostengünstige Faktoren des Bruttoinlandprodukts sind. Vertrauen in die Welt und in die eigene Zukunft zu haben, ist die Grundvoraussetzung für demokratische Teilnahme, für Engagement, Voraussetzung für Hoffnung, Neugier, Mut. Setzen wir einmal idealistisch voraus, dass in den Binnenwelten von Schule und Familie Vertrauen und emotionale Sicherheit vorhanden seien: Was ist mit der Außenwelt? Was hält sie an soliden Vorbildern, Leitlinien, Wegmarken bereit? Schon immer redet die politische Klasse davon, der Jugend Chancen zu verschaffen. Doch wer fragt danach, wie eigentlich das politische und gesellschaftliche Bild unseres Landes auf seine jüngeren Generationen wirkt? Wer von Vertrauen spricht, muss Verlässlichkeit bieten, muss sich beim Wort nehmen lassen und sich hüten, Zukunftsformeln in die Welt zu blasen, die mit seinen wahrnehmbaren und nachprüfbaren Handlungen nicht übereinstimmen. Ist erst der Eindruck von Unaufrichtigkeit entstanden, helfen auch keine Blogs oder Chatrooms der Parteien mehr. Zu viel Glaubwürdigkeit wurde durch handfeste Skandale, nicht minder durch Hanswurstiaden verspielt: die Guttenbergiade und die Wulfiade standen ja dem Berlusconismo unserer gedemütigten italienischen Nachbar kaum nach. Wie sollen Lehrer ihrem Auftrag gerecht werden, vernünftige, mündige und engagierte Demokraten aus der Schule zu entlassen, wenn die Gesellschaft, in die sie gehen, die eben gelernten Ideale ignoriert – um es schöngefärbt auszudrücken? Wie sollen Eltern in einem Land, in dem sich Spitzenversager und die Verursacher von Parteispendenskandalen und Korruptionsaffären gut dotiert zur Ruhe setzen, ihren Kindern den Zielbegriff Anständigkeit vermitteln? Bedenkt eigentlich jemand in der politischen Klasse die Wirkung öffentlicher Lügen auf Kinder, die lernen sollen, die Wahrheit zu sagen? Bedenkt jemand den Eindruck, den die unbekümmerte Geldscheffelei so mancher Unternehmensvorstände bei einer Jugend hinterlässt, der man Verantwortung für die Solidargemeinschaft predigt? Vertrauen und Verlässlichkeit: Jeder Pädagoge kennt die Bedeutung dieser Worte. Sind sie öffentlich verspielt, werden sie auch privat entwertet. Wenn Familien da nicht gegenhalten können, und das ist immer häufiger der Fall, ist die Schule kompensatorisch gefordert. Ihr erklärtes Ziel aber, autonome Persönlichkeiten zu entlassen, wird mehr und mehr davon verstellt, dass die Schule politisch zum Institut für angepasste Informationsvermittlung und gesellschaftsgerechte Konditionierung ausgerichtet wird. Aus ihr sollen junge Menschen mit zehn Tools an jedem Finger als nützliche Wirtschaftsfaktoren in die Welt gehen. Doch sie gehen nicht, sie taumeln. Das Gehen nämlich, das selbständige Gehen, erwirbt man durch Wissen und Werkzeuge allein nicht. Dazu braucht es die Verwandlung von Wissen in Bewusstsein; und die in vielen Sonntagsreden geforderte Ausbildung sozial-emotionaler Kompetenzen. Die alltägliche Wirklichkeit außerhalb der Schule aber besteht gerade in ihrer öffentlich am stärksten präsenten oberen politischen Etage häufig nur aus Als-Ob-Verhaltensweisen und Parolen. Ihr auffälligstes Signal ist Unglaubwürdigkeit. Das heißt: Schule befindet sich mit ihren Erziehungszielen in einem permanenten und für den Nachwuchs leicht erkennbaren  Widerspruch zur Realität der Gesellschaft, auf die sie doch die Jugend vorbereiten will und soll. Ein Dilemma für die Erwachsenen. Eine Tragödie für manche Kinder, die unter dem Eindruck einer perfiden Rosstäuschergesellschaft aufwachsen und keine Chance sehen, sie zu ändern. Kaum etwas ist schlimmer, als resigniert und gleichsam abwinkend ins selbstbestimmte Leben einzutreten. Nun sind junge Menschen aber auch gewitzt. Alle sind auf ihre Weise klug. Sie leben besser in der Gegenwart als die Erwachsenen, weil sie alles vor sich haben, die Erwachsenen hingegen viel hinter sich her schleppen. Und so kann nicht verwundern, dass im jungen Kopf das Netz eine ganz andere Rolle spielt als im alten. Ins Netz geboren, werden sich diese Generation und die künftigen ihr Leben lang nicht mehr daraus lösen können. Es bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, als das Netz so gut wie möglich zu begreifen und zu nutzen. Das bringt Vorteile: Das Netz weiß mehr als die Eltern, auch mehr als die Lehrkraft. Das Netz hilft allerdings auch bei der Vorspiegelung erbrachter Leistungen, vorwiegend im Bereich der Geisteswissenschaften, besonders häufig in der Literatur, die im derzeitigen Deutschunterricht vorwiegend analysiert und kaum mehr erfahren wird. Dazu passt das Netzangebot an Inhaltsangaben und Auslegungen.
    Doch die Literatur ist nicht geschrieben, um interpretiert, zusammengefasst und historisch eingeordnet zu werden. Literatur ist dazu geschrieben, ihre Leser in Konflikte, aus denen sie fast ganz besteht, und in deren möglichst intensives Erleben zu verwickeln. Beim Lesen wird unwillkürlich das Verhalten der Helden beurteilt und die eigene Position im Konflikt bestimmt. Literaturgeschichte und -Wissenschaft sind schön und gut; sie taugen nur überhaupt nichts, wenn man die Literatur selbst nicht lesend erfahren hat. Ein Roman, von dem Schüler zum Zweck von Stilanalyse und Epochenzuordnung Auszüge kennen, ist ihnen entgangen; genauer gesagt: Er wurde ihnen vorenthalten. Seine ausführliche Lektüre hätte ihnen etwas beigebracht über den Menschen, seine Neigungen, seine Stärken und Schwächen, über die Zeitläufte, über Liebe, Tod, Eifersucht, Verwirrung, Geiz, Hochmut, Mitleid, Demut, Trauer, Empörung und Enttäuschung, den Übermut der Ämter und den Mut vor Königsthronen; all dies nicht als abstrakte Reduktion, sondern im Miterleben und – unvermeidlich geschieht das – sich identifizierend: Ein multipler Erkenntnisprozess, der in der Antizipation von Lebenslagen besteht, die auf jeden jungen Menschen zukommen werden wie das Amen in der Kirche. Es ist hilfreich, das vor-erfahren zu haben, dem man später standhalten muss. Zugleich lernt man den Reichtum der Sprache kennen, der wiederum die eigene Ausdrucksfähigkeit fördert. Im Netz lernt man nicht, was im Buch steht. Im Netz stehen fremde Lese-Ergebnisse bereit. Die selbst gelesenen Bücher trägt man im Kopf.
   Im Netz wird demnächst das gesamte enzyklopädische Weltwissen aufgehoben sein. In der Weltliteratur aber wird das Schicksal des Menschen unaufhörlich erneuert. Die Literatur, und nicht ihre germanistische Aufbereitung, könnte darum in der Schule das primäre, lustvolle und für die Bildung einer autonomen Persönlichkeit entscheidende Instrument sein. Wer auf diese Fülle verzichtet, ignoriert die Erfahrung der Menschheit mit sich selbst, denn die ist sprachlich ganz und gar in der Literatur aufgehoben. Wenn Goethe im Faust I den Mephisto zum Schüler sagen lässt: Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, / Und grün des Lebens goldner Baum, spricht er die eigene Überzeugung aus: Wer sich von Sekundärem nährt, lebt aus zweiter Hand. Wer hingegen die Literatur in ihren Werken und nicht in vorverdauter Form liest, erwirbt, wie der Neurobiologe Gerhard Roth sagt, "die Fähigkeit, sich in das Denken und Fühlen der Anderen hineinzuversetzen und die Gefühle und das Verhalten der Anderen zu antizipieren."
    Dass die Gehirnforschung das Lesen von Büchern dringend empfiehlt, ist ein alter Hut, und jedermann kann wissen, dass mangelnde Sprachbeherrschung ein verhängnisvolles Lernhindernis für alle Disziplinen ist. Es geht dabei nicht allein um Gehirntraining, sondern um die Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen und Bedeutung zu ermitteln. Die Semantische Kompetenz, die man beim Lesen von Belletristik erwirbt, bezieht sich nicht allein auf das Verstehen literarischer Mitteilungen – so wie etwa die semantische Kompetenz in Chemie uns ermöglicht, komplizierte chemische Vorgänge nachzuvollziehen oder selbst ausdrücken zu können. Die semantische Kompetenz, die beim Lesen vorzugsweise erzählender Literatur entsteht, greift über die Literatur selbst hinaus, sie wird gleichsam Teil von Lebenskompetenz.   Die Sprache ist das entscheidende Instrument, um uns in der Welt verständlich zu machen und sie zu verstehen. Erklären kann man die Welt großteils auch in Formeln, Bildern, Piktogrammen und Statistiken. Verstehen  nicht. Womit werden nun kommende Generationen mehr Mühe haben? Mit dem Erklären oder dem Verstehen? Mit dem Wissen oder mit seiner Bedeutung? Was wird ihr Kopf vorrangig leisten müssen? Es gehört keine Science-Fiction-Phantasie dazu, eine Prognose zu wagen. Den Bereich des Erklärens wird mehr und mehr das Netz übernehmen, es ist der neue Universalgelehrte, mit dessen Wissensfülle und Geschwindigkeit kein Mensch konkurrieren kann. Seine multimedialen Darlegungsmethoden sind unübertrefflich, und kein didaktisch noch so ausgefuchste Professor könnte eine auch nur annähernd ebenbürtige Informations-Schau bieten. Das Netz ist – oder wird sein – der perfekte Instruktor, das heißt: perfekt zur Unterrichtung – wie auch zur Irreführung. Was bleibt als Aufgabe der Lehre, da sie auf Dauer nicht als Konkurrenz zum allwissenden Netz bestehen kann? Sie wird zu seiner Partnerin, sie kooperiert. Es bleibt ihr gar keine Wahl: Sie muss die Schüler dafür ausbilden, sich im Netz zurechtzufinden und es skeptisch und kritisch, also intelligent zu nutzen. Damit schafft die Schule sich in ihrer gegenwärtigen Gestalt selbst ab. Sie wird sich dann auf jene Aufgaben konzentrieren, die das Netz nicht erfüllen kann: gebildete, menschliche, kritikfähige, neugierige und lebenszugewandte Köpfe heranzubilden, die sich selbst besser verstehen und dafür sorgen, dass die Gesellschaft dem Netz nicht unterliegt, sondern es als Instrument beherrscht. Mit ein paar Korrekturen an den Lehrplänen wird das nicht gelingen. Die Schule wird sich von einer Institution zur Wissensvermittlung in eine zur Bedeutungsvermittlung wandeln müssen, sie wird für naturwissenschaftliche Information das Netz heranziehen; und sie wird pädagogisch sehr viel mehr dafür da sein, dass Kinder die Menschenwelt und sich in ihr begreifen können. Sie wird folglich ihr Schwergewicht auf die Geisteswissenschaften und in den Künsten aufgehobene Menschheitserfahrung legen. Lehrkräfte werden sich vor allem als Helfer ins Leben begreifen und ihren Beruf dafür vielleicht neu definieren müssen.   Ich weiß, dass diese Vorstellung von Bildungszukunft der landläufigen Ansicht diametral widerspricht. Noch hängen wir ja am Bild des Nürnberger Trichters, der längst zum Einfüllstutzen für das Internet geworden ist. Noch bereiten wir die Jugendlichen informativ auf die Wirtschaft, die Sozialstrukturen und den Markt vor, sie sollen nicht mit alten Fragen, sondern neuen Antworten gefüttert und für die Anforderungen der sogenannten Wissensgesellschaft trainiert werden. Das ist bereits jetzt ein überholtes Konzept. Denn es kann die Frage, die ja über aller Erziehung steht, nicht mehr hinreichend beantworten: Was braucht es, um aus unseren Kindern Menschen werden zu lassen, die sich in der Welt verstehen und ein erfülltes, gelingendes Leben führen können. Aristoteles nannte das in seiner Nikomachischen Ethik Eudaimonia. Seiner Ansicht nach ist das, was den Menschen kennzeichnet, sein ergon, die Begabung zur Vernunft. Hinzu kommen Sprache, sittliches Verhalten und politische (staatsbürgerliche) Verantwortlichkeit. Diese Fähigkeiten und Tugenden, im richtigen Maß, also in menschengemäßer Weise ausgeübt, führen zum Lebensglück. Die Suche danach ist seither das große Thema der Weltliteratur.
   Auf die Frage des unglücklichen und am Ende verblendeten Faust, wie wir erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält, fand er keine naturwissenschaftliche Antwort. Auch das Netz würde ihm bei dieser Frage nicht helfen. Wo er als Mann des Mittelalters den Ausweg in die Magie wählte, steht es uns frei, mit einer neuen geisteswissenschaftlichen Perspektive uns selbst besser zu begreifen und unsere Umwelt menschengemäß zu gestalten: ohne Goldenes Kalb, ohne Ungeduld, mit einem neuen Verständnis für die Langsamkeit der Bildung. Das wäre nicht weniger als eine zweite Renaissance.
   Vielleicht haben wir diese Renaissance sehr bald nötig, wenn wir Europa erhalten wollen. 

 
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