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DIE VERTRIEBENE ZEIT
Über die Ablenkung von uns selbst  
von Gert Heidenreich    


Jenen Augenblick werde ich nicht vergessen: Auf einer Reise durch die algerische Sahara stand ich eines Mittags weit ab von allen Pistenspuren und noch über hundert Kilometer von der großen Oasenstadt In Salah entfernt in einem kleinen Tal zwischen Dünen. Die Sonne senkrecht über mir, mein Schatten versammelt um meine Füße. Nichts als das leise Sirren der Hitze und das blendende Blau über den Graten der Sandberge. In der Erinnerung dehnt sich die Stille noch immer in mir aus und trägt mit sich das Gefühl, das ich damals hatte: Behütet zu sein und unbegrenzt Zeit zu haben. Zu stehen, zu schauen, wahrzunehmen, dass sich nichts ereignete. Es war die Erfahrung einer herrlichen Langeweile, und hier lange zu verweilen, war die Einladung der Wüste zur allmählichen Verfertigung meiner Gedanken.  
Wochen zuvor war ich aus unserer Ablenkungsgesellschaft aufgebrochen, und einige Wochen später kehrte ich wieder in sie zurück. Dass die Zeit in der Wüste langsamer vergeht, als in unseren Städten, in denen wir unaufhörlich von Angeboten zur Beschäftigung unserer Sinne umschrien werden, ist eine Erfahrung, die viele Menschen gemacht haben. Erstaunlich aber, dass sie auf den ersten Blick den Untersuchungen widerspricht, die in der Gehirnforschung angestellt wurden. Offenbar gibt es keine Zellen oder kein Areal in unserem Gehirn, wo die Zeit objektiv bestimmt wird. Vielmehr nehmen wir die Dauer eines messbaren Vorgangs je anders wahr, wenn wir uns während seines Verlaufs geistig mit ihm auseinandersetzen oder nicht: Je intensiver unser Denken dabei beschäftigt ist, um so länger erscheint uns der Vorgang. Je weniger er uns zu denken aufgibt, desto kürzer kommt dieselbe messbare Dauer uns vor. Hinzu kommt ein statistischer Faktor: die Zeitrelation. Ein Baby, das einen Tag alt ist und sechzig Minuten auf seine Mutter warten muss, wartet dabei etwa vier Prozent seines Lebens. Schon für einen Zehnjährigen beträgt die selbe Zeitspanne, bezogen auf sein Leben, nur noch ein Tausendstel Prozent. In der Lebensmitte spielt diese Rechnung kaum eine Rolle mehr, erst gegen Ende tritt eine neue Relation zum absehbaren Rest unserer Zeit ein. Man könnte solchen Untersuchungen zufolge annehmen, dass die Vielzahl von wechselnden Angeboten in den Straßen einer Stadt unser Denken kräftig anregt, darum die gefühlte, uns subjektiv zur Verfügung stehende Zeit verlängert – und im Gegenschluss, dass wegen der geringen Menge unterschiedlicher Eindrücke in der Wüste uns die Zeit rasch verfliegt. Und doch verhält es sich zweifellos umgekehrt. Die Zeit in der Wüste kommt uns besonders lang vor, in Einsamkeit und Stille hat sie eine beruhigende Dauer: Das legt nahe, dass wir angesichts des eher kargen Angebots an landschaftlicher Variation geistig besonders rege sind. Wofür auch die bedeutsame Rolle der Wüsten für die Gründung von Religionen spricht. Die Intensität unseres Denkens in Bezug auf unser Zeitgefühl verhält sich anscheinend umgekehrt proportional zur Menge der auf uns eindringenden Sinneseindrücke. 

Nun ist die Wüste nicht unser alltäglicher Lebensraum. Wie wir im gebauten Raum der Städte den Verlauf der Zeit empfinden, muss uns mehr beschäftigen: Dass uns die Zeit so schnell zu verrinnen scheint; dass wir uns oft gehetzt fühlen; dass Stress vorwiegend als Mangel an Zeit definiert wird, deutet nach den Gehirnforschungen zu unserem Zeitempfinden darauf hin, dass wir gedanklich nicht gefordert sind, dass wir uns mit der Kette der Augenblicke nicht denkend auseinandersetzen, dass wir einigermaßen geistlos durch den Tag treiben, obwohl die Angebote zur Wahrnehmung bildlicher Eindrücke und akustischer Signale in den städtischen Kulissen und häuslichen Medienausstattungen so zahlreich sind wie nie zuvor. Zum Denken regen sie offenbar nicht an, ja sie scheinen das Denken sogar zu verhindern, sonst müssten wir ein anderes Zeitgefühl haben, die Fülle der Signale müsste uns eine Fülle der Minuten bescheren. In Wirklichkeit aber scheint unsere Zeit knapp wie nie zu sein. Als fortschrittlich sehen wir Erfindungen an, die Zeit sparen oder zumindest vorgeben, es zu tun. Sie versprechen Freizeit oder erhöhte Effektivität und reden uns ein, Zeitverschwender zu sein. Wer sich vor solcher Propaganda nicht bewahrt, läuft Gefahr, ausschließlich in zwei Zuständen zu leben: gehetzt und erschöpft.
Als Erlöser aus diesem Teufelskreis bieten sich Helfer an: Zeitmanagement mit der verführerischen Formel Simplify Your Life und die Parallelisierung von Handlungen, so dass wir uns ständig im Multitasking vervollkommnen, beim Aktenlesen essen und Emails beantworten und beim Telefonieren Auto fahren und Radio hören. Kommen wir dann zur Ruhe, meldet sich ein Zeitgenosse, dem sich allmählich die ganze Kulturindustrie unterworfen hat: der Zeitvertreib. Unter der Illusion, dass er uns vom Stress befreit, hat er es auf das letzte Stück unserer Zeit abgesehen, das noch nicht Termin heißt, und wir geben es ihm gern. Sein Geheimnis ist die Ablenkung von uns selbst.  
In unserer Erlebnisgesellschaft, die den Zeitvertreib zur raffiniertesten aller öffentlichen Künste erhoben hat, hat sich eine Falle aufgetan: Wir scheinen zu vergessen, dass es unsere Lebenszeit ist, die da im Wortsinn vertrieben wird – und dass wir dies selbst wünschen und wollen. Die Kunst der Kurzweiligkeit und des Amüsements ist darum erfolgreich wie keine andere.  

Wie kam es so weit? Hierzu müssen ins Gegenteil blicken: In die Langeweile, den Ennui, den horror vacui. Die abendländische Philosophie hat sich seit Beginn der Entdeckung des Menschen als Individuum mit seiner Langeweile befasst, und spätestens seit dem 17. Jahrhundert, seit Blaise Pascal, hat das Thema regelrecht Konjunktur. Für Pascal, der uns Menschen ja in elender Lage sah, hat die Überwindung der unerträglichen Langeweile schreckliche Folgen: „Das einzige, das uns über unser Elend hinwegtröstet, sind die Zerstreuungen. Und doch sind sie unser größtes Elend. Denn gerade sie sind das Haupthindernis, wenn wir über uns selbst nachdenken wollen. Sie stürzen uns unmerklich ins Verderben.“ Pascal hat damit ein Dilemma konstatiert, dem zu entrinnen ohne das Wunder der göttlichen Erlösung unmöglich ist. Immanuel Kant, der gegen den Horror vacui ausdrücklich weltliche Vergnügungen wie das Tabakrauchen, das Reisen oder das Lesen von Liebesromanen empfahl, hatte vor der Langeweile offenbar mehr Angst als vor ihren Gegenmitteln, während Schopenhauer, dem „das Leben unsers Leibes nur ein fortdauernd gehemmtes Sterben, ein immer aufgeschobener Tod“ war, auch in der „Regsamkeit unsers Geistes“ nichts sah als „eine fortdauernd zurückgeschobene Langeweile“. Wir sehen: Sowohl die Langeweile wie auch die Methoden ihrer Bekämpfung waren Jahrhunderte vor der Erfindung des Fernsehens beliebte Gegenstände der Spekulation. Mit dem zwanzigsten Jahrhundert nimmt sich auch der Roman des Themas an und urteilt gelegentlich nicht weniger scharf als die misanthropischen Philosophen. „Was ist alles, was wir tun, anderes, als eine nervöse Angst, nichts zu sein: von den Vergnügungen angefangen, die keine sind, sondern nur noch ein Lärm, ein anfeuerndes Geschnatter, um die Zeit totzuschlagen, weil eine dunkle Gewissheit mahnt, dass endlich sie uns totschlagen wird.“ So räsoniert Musil in seinem Mann ohne Eigenschaften, während Thomas Mann intuitiv die Ergebnisse der neueren Gehirnforschung in Bezug auf unsere Zeitwahrnehmung vorwegnimmt, wenn er im Zauberberg schreibt: „Was man Langeweile nennt, ist also eigentlich vielmehr eine krankhafte Kurzweiligkeit der Zeit infolge von Monotonie: große Zeiträume schrumpfen bei ununterbrochener Gleichförmigkeit auf eine das Herz zu Tode erschreckende Weise zusammen.“
Das ist nicht nur gut beobachtet und formuliert, es deckt sich mit dem Entsetzen, das zweieinhalb Jahrhunderte vor ihm Pascal vor dem Ennui, der inneren Ödnis, empfand. An diesem sehr unvollständigen tour d’horizont zum Gefühl der Langeweile sehen wir, dass es die so genannten besseren Kreise waren, die sich vor etwas fürchteten, was sie sich leisten konnten. Wer hingegen vollauf damit beschäftigt war, sich kärglich zu ernähren, musste die Idee, dass er sich zerstreuen, seine Gedanken abschweifen lassen und die Hände in den Schoß legen sollte, um sich Vergnügungen hinzugeben, für einigermaßen befremdlich halten. Der horror vacui, der Schrecken vor der Leere in uns und dem Gefühl der Sinnlosigkeit des eigenen Daseins, war mithin ein Problem der Dekadenz in jenen Kreisen der Gesellschaft, die Zeit hatten, sich zu fragen, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollten. Ihr Hedonismus, ihre Vergnügungssucht als Therapie gegen Lustlosigkeit und Lebensverdruss, lenkte ab von den sittlichen, ethischen und politischen Fragen, die ein solches Verhalten in der Gesellschaft aufwirft. Das späte Rom ist dafür – jedenfalls in der kritischen Nachbetrachtung im Achtzehnten Jahrhundert durch Montesquieu – der Musterfall eines Volkes, das aufgrund seiner aufgeblähten Herrschaft der Dekadenz verfällt, seine gemeinschaftlichen Grundüberzeugungen, den ésprit général, aufgibt und immer stärkere Mittel der Abschweifung, immer ausgefallenere Vergnügungen und Belustigungen braucht, um der Langeweile zu entkommen. Die Römer stehen dabei nicht allein als Hedonisten da, die starker äußerer Reize bedürfen, um sich selbst noch zu empfinden. Sie stehen paradigmatisch für eine Tendenz zu Genusssucht und Verzärtelung, die schon in der griechischen Antike, bei den Sybariten, konstatiert wurde, von denen, wenn auch kaum mehr gebräuchlich, bis heute die Beschimpfung Sybarit überlebt hat. Als solcher gilt ein luxuriös lebender Weichling, und weil die Sybariten angeblich die Badewanne erfunden haben, klingt ihre Lebensweise bis heute an, wenn es um männliche Verachtung geht: „Der Herr badet gern lau“, sagte Herbert Wehner über Willy Brandt. Das war ein Dolchstoß aus Freundeshand.  
Im Europa der Gegenwart gibt es kein dekadentes Großreich. Die europäischen Demokratien scheinen gefestigt zu sein, die Bedürfnisse, einander zu beherrschen, sind minimal – oder zumindest perfekt camoufliert. Die öffentliche Völlerei der Milliardäre hält sich in Grenzen. Allerdings spreizt sich die Schere zwischen Arm und Reich seit langem bedenklich weit, wenn auch unsere Grundversorgung und Lebenssicherheit so hoch sind wie nie zuvor in der Geschichte unseres Kontinents. Einige untrügliche Zeichen deuten jedoch auf einen Zerfall der Gesellschaft und eine tiefe Erschöpfung in öffentlichen Dingen. Das gelangweilte Hinnehmen der Freiheit als einer Selbstverständlichkeit, die sie nie war und nicht ist und nie sein wird; die damit verbundene Politikmüdigkeit und der Rückzug auf private Belange, der Eskapismus und die immer wieder bemängelte soziale Kälte sind Signale der Dekadenz – wenn auch noch keine Alarmzeichen. Alarmierend ist die Abspaltung der Geldhändler von der übrigen Gesellschaft: Die Arroganz von Bankern und Spekulanten, mit der sie sich der Verantwortung für das von ihnen angerichtete weltweite Finanzdesaster entzogen haben und entziehen, die Selbstbedienungsmentalität von Spitzenversagern und die freche Ignoranz, mit der sie über die Schicksale von Einzelnen und Staaten hinwegschwadronieren, zeigt, dass sich diese entsittlichte Spezies als eigene Klasse begreift, die den Gesetzen bürgerlichen Lebens nicht unterworfen sei. Sie haben das Selbstverständnis von Oligarchen, denen nichts besseres passieren kann, als dass wir, die von ihnen bestohlen wurden, uns mit tapferem Konsum gegen die Krise wehren und uns mit einem Apparat von Vergnügungen und Zerstreuungen betäuben, der als Ventil für den Volkszorn noch ausreicht. Die Raubritter, die uns ungestraft und mithilfe unserer eigenen, von ihnen angeheizten Gier nach Renditen in den Schuldenabgrund gestoßen haben, können ihren Hedonismus ausleben, indem sie auf unsere Bereitschaft spekulieren, uns durch die Ablenkungsindustrie ruhig stellen zu lassen.
Zu dem ökonomischen Missstand, den eine Klasse von Vabanque-Hasardeuren zu verantworten hat, gesellt sich der Unmut über die politische Klasse, die ihre Glaubwürdigkeit nahezu vollständig verspielt hat. Zu viele Wendehälse und Windmäntelchen, zu viele falsche Versprechen und hochtönende Floskeln, zu viele halbe Wahrheiten und ganze Lügen. Zuerst verschwindet das Vertrauen in die Politik, dann der Nachwuchs für die Politik – wer will schon noch in ein Gewerbe eintreten, das derart in Verruf steht. In der Folge wächst der Anteil derer in den politischen Ämtern, die bei geringer Qualifikation mehr den persönlichen Vorteil als das Allgemeinwohl im Blick haben. Der schädliche Synergieeffekt dieser Anzeichen ist der Verfall des ésprit général in einem Europa, in dem partikulare Egoismen die Oberhand gewinnen.
Vorreiter der Dekadenz ist wieder einmal Italien, das uns zeigt, wie man den eigenen Niedergang genießen kann: Einen Gauner wie Berlusconi und seine Lakaien an der Macht zu halten – das lässt sich nur mit dem Bedürfnis nach Unterhaltung erklären, dem der römische Lächerling gern entspricht. Brot und Spiele – er hat die Spiele, die Medien also, in der Hand und sorgt mit seiner bedenkenlosen Amoralität dafür, dass Langeweile nicht aufkommen kann. Belustigung, Empörung, Aufregung – was gibt es Schöneres für eine Gesellschaft, die ihre Würde an einen bösartigen Hanswurst verschenkt hat und sich nun an seinen Affären, seinen mondänen Partys und seiner boulevardesken Fernsehunterhaltung ergötzt. Fassungslos sieht die Welt zu, wie sich eine Wiege des Abendlands zum Gespött macht. Wenn die Selbstachtung derart zerstört ist wie in der gegenwärtigen italienischen Gesellschaft, ist Zerstreuung das letzte Mittel, um sich selbst noch zu ertragen. Wer nicht mehr in den Spiegel sehen mag, greift nach jeder Ablenkung von sich selbst. Und doch geschah jüngst mitten im italienischen Kollektivmasochismus das Wunder, dass in einem Fernsehsender, nämlich dem Minderheitenprogramm rai tre, das von einem von Berlusconis Günstlingen geleitet wird, die ungeschminkte Wahrheit über das Land, die Verbitterung vieler junger Bürger, die Trauer um Italiens zerbrochene Würde ein Forum erhielten. Der Mafia-Enthüller Roberto Saviano und der Fernsehjournalist Fabio Fazio haben in einer dokumentarischen Talkshow mit dem Titel Vieni via con me – auf deutsch etwa Komm, lass uns weggehen –zusammen mit Studiogästen das italienische Elend in einer Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht, die niemand erwarten konnte. Ein Wunder, dass die Sendungen gegen alle Zensurwiderstände ausgestrahlt wurden. Das größere Wunder: Saviano und Fazio brachen mit ihrem bildlich unaufwendigen, ja geradezu karg ausgestatteten Fernsehformat alle Publikumsrekorde. Bis zu elf Millionen Zuschauer, 34% davon jünger als 35 Jahre, 57% Akademiker; dazu 13,5 Millionen Aufrufe der Internetseite des Programms. „In dieser Sendung wird ein Volk gebeten, innezuhalten, in sich zu schauen“, charakterisierte der Zürcher Tagesanzeiger. Hochachtung gebietet nicht nur die Beharrlichkeit, mit der die beiden Journalisten ihre Sendungen gegen massive Unterdrückungsversuche durchgesetzt haben und es dem satirischen Komödianten Roberto Benigni ermöglichten, in einem furiosen 40-Minuten-Auftritt Berlusconi zu demontieren. Bedeutsamer noch als die kluge Nutzung des Massenmediums ist das Zeichen, das sie gesetzt haben und das weit über Rom hinaus leuchtet: Berlusconi hat sich noch nicht ganz Italien einverleibt; es gibt noch ein paar Gräten in seinem Hals. Sein zynisches Spaßprogramm fürs Volk zieht nicht mehr. „Vado via perché preferisco i paesi dove ci si può annoiare“, sagte Fabio Fazio: „Ich gehe, weil ich Länder bevorzuge, in denen man sich langweilen kann.“ An diesem ermutigenden Medienereignis lässt sich beispielhaft ablesen, wo die Grenzen der Ablenkungsgesellschaft liegen: Wenn Menschen mit einer Aura von Wahrhaftigkeit und Mut, wie sie Roberto Saviano umgibt, öffentlich verlangen, dass wir uns als autonom denkende Wesen ernst nehmen und die Folgen unserer Selbstpreisgabe ans Amüsiergewerbe erkennen, dann kann das wie eine Erweckung wirken.  

Nun ist Italien, selbst wenn Frankreich mit Sarkozy durchaus nacheifernd konkurriert, ein Sonderfall. Die Problemkonturen sind hier scharf gezeichnet, während sie in Ländern wie dem unseren noch verschwimmen. Nördlich der Alpen haben wir bei gemäßigtem Temperament generell nicht ganz so viel Vergnügen an unseren Staatslenkern, seit Franz J. Strauss nicht mehr den großen bösen, listigen und cholerischen Zampano gibt. Was nach ihm kam, produzierte zwar viel unfreiwilligen Humor, hatte aber kein Zirkusformat mehr. Hierzulande müssen Belustigung und Zeitvertreib in der Kulturindustrie nicht verordnet und durch willfährige Vollzieher gesichert werden: In schöner Freiwilligkeit, die in diesem Fall vielleicht schlimmer ist, als es politische Bevormundung wäre, hat sich ein Trend zum Amüsement, zu Event, Kick und Belustigungszwang durchgesetzt, dessen Parallelität zu der vorhin beschriebenen Arroganz der Geldhändler und der Unglaubwürdigkeit der Legislative samt ihren Institutionen zumindest auffällig ist. Wer dies kritisch anmerkt, gilt leicht als Miesmacher und Spielverderber, als Nöckergreis und unverbesserlicher Kulturpessimist. Auch diese Zuordnung gehört zu den Tricks der Zeitvertreibgesellschaft, denn nichts schützt sie besser, als ihre Kritiker mit negativen Anhaftungen zu versehen. Es gibt aber Spiele, deren Verderber zu sein, sinnvoll ist, weil sie nicht dem zweckfreien Vergnügen des Menschen dienen, sondern der öffentlichen Augenwischerei. Am leichtesten zu durchschauen: das Fortschrittsspiel, das uns ein besseres Leben verspricht. Die Deutsche Bahn ist Meister dieser Magie und hört nicht gern, wenn jemand es nicht für erstrebenswert hält, Milliarden auszugeben, um einen Gewinn von zwanzig Minuten zu erzielen. Sie tut so, als beschenke sie uns mit Lebenszeit, während wir längst darauf programmiert sind, die eingesparten 1200 Sekunden mit einer Verdichtung des Terminkalenders zu kompensieren. So verkehrt sich Zeitgewinn in Stress. Dafür auch noch Steuergelder aufzuwenden, hat etwas von Alltagswahnsinn. In den Broschüren der Bahn sehen wir Menschen, denen das Rasen zwischen Betonwänden bei gleichzeitiger unfreiwilliger Teilnahme an dreißig Mobiltelefonaten ein strahlendes Lächeln aufs Gesicht zaubert. Die Botschaft: Unser Dasein ist Heiterkeit. Ein Chor von Bioproduzenten, Autoherstellern und Medikamentenerzeugern hält den vorwiegend unerfreulichen täglichen Nachrichten unverdrossen die schiere Lebensfreude entgegen. Die virtuelle Werbewelt, in der aus einsichtigen Gründen an jedes Produkt eine Glücksverheißung geklebt wird, hat sich mit der realen Welt der Erfahrung derart intim vermengt, dass es konzentrierter kritischer Aufmerksamkeit bedarf, nicht selbst in dies Spiegelkabinett hinein gezogen zu werden. Der Eintritt liegt aber möglicherweise schon hinter uns. Ästhetische Muster der Fernsehwerbung springen auf die Bildgestaltung von Spielfilmen über, digitale Zaubertricks aus Spielfilmen auf Werbespots. Beide Welten sind nicht nur ökonomisch eine einzige geworden. Das Heiterkeitsdiktat der Werbung färbt auf Fernsehprogramme ab, und Knalleffekte der Filmindustrie finden sich in Werbespots des Fernsehens wieder. Einer eifert dem anderen nach und versucht, ihn zu übertreffen. Diese Prozesse waren seit Jahrzehnten absehbar und wurden von Medienanalytikern präzise vorhergesagt. Inzwischen sind das Worldwide Web und zahllose Computerspiele hinzu gekommen und haben wiederum bei Kino, Fernsehen und Werbung Anleihen genommen. Noch hängen die meisten Websites stilistisch in den Fünfziger Jahren fest und sind Computerspiele überwiegend auf dem Stand des einstigen Zeichentrickfilms, doch das ist nur eine Frage von Zeit und Datengeschwindigkeit. Wir werden in nächster Zukunft eine auf Multimediabildschirmen zusammengeführte interaktive Datenwelt aus Film, Internet, Computerspielen, Heimarbeit, privater Kommunikation, Werbung und Fernsehprogrammen bekommen, ganz ähnlich der, die Ray Bradbury 1953 in seinem Science-Fiction-Roman Fahrenheit 451 beschrieben und François Truffaut 1966 verfilmt hat: Eine Dystopie, in der der Alltag von infantilem Fernsehamüsement beherrscht wird. Möglicherweise hat Bradbury seiner negativen Utopie am Ende durch die tröstliche Gegenwelt von Bücherliebhabern, die während ihres einfachen Lebens in Wäldern ganze Romane auswendig lernen, nur deshalb aufgeholfen, weil er die Radikalität seiner Vision ohne einen letzten ästhetischen und ethischen Widerstand nicht aushielt.  
Längst aber haben die Reize der Oberfläche sich auch in der Belletristik siegreich ausgebreitet. Nicht dass die grenzenlose Kunst des Erzählens schon verkümmert wäre: Doch wenn heutzutage über vierzig Prozent der Menschen, die noch Romane kaufen, Krimis, Fantasy, Vampirgeschichten und Humor verlangen, dann haben sich Fernsehwelt und Kinowelt bereits im Buchhandel gespiegelt. Das bleibt nicht ohne Auswirkung auf die belletristischen Programme der Verlage, die wiederum Autorinnen und Autoren zumindest nachdenklich werden lassen. Dass es sich nur um Moden handelt, ist seit der nicht bloß wirtschaftlichen, sondern auch medialen Interdependenz in der Kulturindustrie nicht mehr vernünftig anzunehmen. Vielmehr befinden wir uns in einem kulturellen Paradigmenwechsel. Die Gestalt unserer realen Lebenswelt folgt den Erwartungen, die wir aus den Medien aufgenommen haben. Was früher Veranstaltung war, muss jetzt Event sein und Gala; Jugendliche tauchen auf Buchmessen in Manga- und Vampirkostümen auf, kommen zu Tolkien-Lesungen im Pseudomittelalterlook der Herr-der-Ringe-Filme; historische und populärwissenschaftliche Dokumentationen werden ohne die oft unfreiwillig amüsanten Spielszenen, sogenanntes Reenactment, kaum mehr produziert; die Kommentartexter stehen unter dem Zwang, voraussetzungslos zu schreiben, was heißt: dem Publikum keinerlei Allgemeinbildung zuzutrauen. Die Einschaltquote diktiert alles: Sendezeit, Vorankündigung, Werbung, Ansehen innerhalb und außerhalb der Redaktionen. Was einst Programmverantwortung von Journalisten war, die dies für gut und jenes für schlecht hielten, ist unter der Quote verschwunden. Hinter nichts kann man die eigene Einfalt so gut verstecken wie hinter der angeblich objektiven Statistik. Die Einschaltzahlen sagen jedoch nichts aus über Wirkung und Fortwirkung von Sendungen, nichts über den Geisteszustand der Zuschauer, sie belegen häufig nur den Erfolg des schlechten Geschmacks. Das öffentlich-rechtliche Radio hält als letztes subversives Medium in Wortprogrammen dagegen. Die erfolgreichsten Fernsehabende gehören dem Kriminalfilm und den Kitschorgien mit Pseudo-Volksmusik, die offenbar von Millionen als kurzweilig empfunden werden. Sie dienen dem Zeitvertreib und der Zerstreuung einer Gesellschaft, die, selbst wenn sie es wollte, ihre sozialen Probleme vor lauter Schulden auf absehbare Zeit nicht einmal ansatzweise lösen kann und darum unter den Teppich kehrt. So lange, bis er brennt. Und dass er brennen wird, ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Noch sucht sich der Wutbürger bestimmte Anlässe, noch geht es um Umwelt oder Geld. Darunter aber wächst ein diffuser Zorn auf den Allgemeinzustand, der von keiner Unterhaltungsindustrie gezähmt werden kann. Wer in einer solchen Gesellschaft nicht an Dekadenz denkt, denkt nicht.   Man schreibt die Verantwortung an dieser Lage gern dem allgegenwärtigen Fernsehen zu. Es ist ja tatsächlich die entscheidende Erfindung des vergangenen Jahrtausends gegen die Langeweile, die es vertreiben, wie auch produzieren kann. Weil es auch im ausgeschalteten Zustand und bei schwarzem Bildschirm immer als Möglichkeit anwesend ist, ist es ständig in uns vorhanden. Doch das Fernsehen ist nichts als ein Instrument. Man kann es für kindische Ablenkung oder Staatspropaganda ebenso gebrauchen wie für die Hinlenkung des Menschen zu sich selbst, für Bildung und Kunstgenuss ebenso wie für die Beförderung der Dummheit und Löschung des Bewusstseins. Wir sind es, die über die Nutzung entscheiden, wir wählen die Vertreibung der Zeit oder den Zuwachs an Lebenseinsicht. Die Angebote sind vorhanden, etwa bei 3sat und arte, und sie sind durchaus kurzweilig.
Der Hinwendung zu uns selbst, der Selbstachtung Priorität zu geben, ist für niemanden leicht – schon gar in einer Gesellschaft, die ständig bemüht ist, neue Ablenkungen zu erfinden und sie in multimedialen Geräten zusammenzubasteln. Halten wir uns unabgelenkt überhaupt noch aus? Wer in seinem Straßentelefon zugleich einen Fotoapparat, eine Videokamera, einen Internetzugang mit facebook und twitter, email, SMS, MMS, Computerspiele und einen ganzen Kaufladen von Klingeltönen mit sich herumträgt, kann diese erstaunliche Erfindung zwar durchaus sinnvoll nutzen – er kann sich aber auch im Angebot tausender Abschweifungen verlieren, ja ihnen verfallen. Weil die Erlebnisgesellschaft Spaß haben will, sofort und in der Tasche, kann die Zeitvertreibindustrie zum Zweck ihres wirtschaftlichen Erfolgs den kritischen Gebrauch ihrer Einrichtungen verhindern. Sie braucht keine autonomen Menschen, sondern Dauerkonsumenten ohne Bewusstsein. Wir, die so genannten Nutzer, sollten lernen, diesem permanenten Übervorteilungsprozess standzuhalten. Die Frage ist, ob wir das wollen und ob wir es noch können. Wie selbstverständlich genießen wir den gepriesenen allumfassenden Service, die vielfältigen Navigationshilfen – nicht nur zur Adressenfindung, sondern in jeder Hinsicht: zur Lebensorientierung, Wissensspeicherung, Kommunikation. Ob aber das Wort Freundschaft bei facebook noch Freundschaft bedeutet, ob Nachrichten in der twitter-Welt vertrauenswürdig sind, ob die lexikalischen Auskünfte von wikipedia  der Wahrheit entsprechen, entzieht sich weitgehend unserer Beurteilung. Unterhaltsam ist es jedenfalls, sich in diesen Welten treiben zu lassen – vergnüglicher als in der Realität, die man sich wenigstens akustisch via mp3player und Knopf im Ohr verschönern kann...  
Das Problem der Langeweile haben wir wahrlich gelöst. Nicht gelöst haben wir die Probleme, die durch die Beseitigung der Langeweile entstanden sind. Ein gewisser Karl Gottlieb Windisch hat einst noch geglaubt, mit kurzweiligen Traktaten und Geschichten die Menschen zu Sitte und Anstand erziehen zu können, und seiner Zeitschrift den optimistischen Titel verliehen: Der vernünftige Zeitvertreiber. Aber das war 1770.
Wir sind heute vielleicht näher an einer Utopie, wie sie der satirische amerikanische Spielfilm Idiocracy (Herrschaft der Idioten) aus dem Jahr 2006 schildert: die Vereinigten Staaten im Zustand totaler Verblödung, wo ein Kinohit den Oscar für das beste Drehbuch bekommt, in dem neunzig Minuten lang ein menschliches Gesäß gezeigt wird, und wo ein mit entsetzlicher Dummheit geschlagener einstiger Wrestler und Pornostar ins Präsidentenamt aufgestiegen ist. Der Film war sehr amüsant und – ein Flop. Kritiker meinten, er habe einen zu deutlichen Beigeschmack von Wahrheit...   ©gert heidenreich2010 swr / rbb / BR






 
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