Gert Heidenreich © 2007
IM DUNKEL DER ZEIT
Die
Hšlle ist offen. Wir haben geglaubt, das Tor hŠtte sich geschlossen. Es war nur
angelehnt.
Peter Gottfreund
I
Swoboda
Swoboda wandte den Blick ab von
dem Toten unter den BŠumen, der auf dem RŸcken im Laub lag wie ein riesiges,
wachsbleiches Krippenkind, mit ausgebreiteten, zum Himmel offenen HŠnden.
Die Doppellage
KŸchenpapier, die das Becken des Leichnams bedeckte, sah aus wie das Lendentuch
eines Heilands. Zumal Ÿberall am Kšrper Blutmale waren. Der Kommissar war vor
Entsetzen nicht fŠhig, sich zwischen Geburt und Kreuzigung zu entscheiden.
Das Gesicht hatte
Satan gemacht: tief in die SchŠdeldecke eingeschlagene ZimmermannsnŠgel standen
dicht nebeneinander wie eine eiserne Punk-Frisur. Sie gingen auf der Stirn in
eine Nagelmaske Ÿber, die nur den wei§en NasenrŸcken freilie§ und Ÿber das Kinn
bis zum Hals hinunterwuchs.
Die Ermittler und
Tatortbeamten, die um den nackten Toten standen, fragten sich, wer fŠhig war,
so etwas zu tun. Wie lange das Opfer gelitten hatte. Ob der TŠter den ersten
Nagel durch die SchŠdelkalotte getrieben und an dem Hirntoten sein Werk
fortgesetzt oder mit einem in den Kehlkopf geschlagenen Nagel begonnen und sich
aufwŠrts gearbeitet hatte. War ein Sadist am Werk gewesen, der seine Neigung an
einem Toten befriedigte, oder einer, der sich an den Qualen eines elend Sterbenden
weidete? Keiner sprach seine Fragen aus, so als hŠtte die morgendliche Waldstille
zu schweigen geboten.
Manchmal ha§te Swoboda
die Stadt, in der er zwar nicht geboren doch gro§geworden worden war, und die
ihn, nach seinen besseren Jahren andernorts, wieder eingefangen hatte, ohne da§
die GrŸnde dafŸr von ihm selbst gewŠhlt worden waren. Manchmal lebte er
gleichgŸltig wie ein Vogel in ihr, manchmal widerte sie ihn an, nicht nur im
Herbst, wenn der Bergwald Ÿber dem Ufer der Mahr sein Blattfeuer verlor und
jenseits des Flusses die Altstadt abends als dunkler Schwamm auf der Halbinsel
lag.
Der Landwinkel hatte
sich in den letzten eiszeitlichen EndmorŠnen gebildet, war vom Zusammenflu§ der
nun Mahr und MŸhr genannten FlŸsse eingeschlossen und irgendwann in der
Bronzezeit besiedelt worden.
Wer der fast jedes
Jahr im April Ÿberfluteten Stadt den Namen gegeben hatte, war unbekannt.
Swoboda hatte bei seinen landeskundlichen Nachforschungen nur zwei Leute mit
Šhnlich klingenden Namen ausfindig machen kšnnen. Einen Steinmetz mit Vornamen
Herrmann und einen Alchimisten, IrenŠus gerufen, Apotheker vermutlich, der 1542
auf dem Kornmarkt vor dem noch immer erhaltenen MŠuseturm an der Landspitze, wo
aus den Wassern von MŸhr und Mahr die Nelda sich bildete, als Zauberer
verbrannt worden war.
Das Schicksal hatte
Swoboda dazu ausersehen, hier mit Besoldungsgruppe A12 die AbgrŸnde auszuloten,
sie aufzuhellen und die šffentliche Ordnung zu hŸten; ihn ausgerechnet, der
seine bewegten Jahre um 1968 hŸtete wie den Lichtschatz seines Lebens!
Verbreiteter Annahme zufolge m٤te ihn der Gang durch die Institutionen in den
Dienst am Gemeinwohl gefŸhrt haben. TatsŠchlich aber war es, seltsam genug, die
Liebe zu einer Polizistin gewesen, die den Studenten Swoboda durch die
plštzliche Nahbegegnung wŠhrend einer Demonstration zum Seitenwechsel verleitet
hatte. LŠngst war er geschieden, und seine Hoffnungen von damals hatten sich
ohne angekŸndigte Trennung aus ihm verzogen.
Seinen Beruf verstand
er als soziale Aufgabe: Mit kontrollierter Befugnis und aufklŠrerischer
Raffinesse seine MitbŸrger davon abzuhalten, schlechter zu handeln, als sie
unbedingt mu§ten. Er erinnerte sie daran, da§ auch geringfŸgig falsche Entscheidungen
Verbrecher aus ihnen machen konnten, und da§ sie ihre Freiheit – solange
sie darŸber verfŸgten – dazu verwenden sollten, den Rest guter Veranlagungen
in sich selbst zu pflegen und ein besseres Leben zu fŸhren. Im Grunde brauchten
sie dafŸr keine Polizei, sie hŠtten nur Sophokles, Schiller, Henry James und
Dostojewski lesen mŸssen. Doch das taten sie nicht. Deshalb benštigten sie den
Kriminalhauptkommissar Alexander Swoboda, einundsechzig, der gerne Cordsakkos
trug und sich selbst, hŠtte er vor vierzig Jahren in den Spiegel der Zukunft
blicken kšnnen, als Bullenschwein tituliert hŠtte. Und der sich noch heute, wenn er in
seinen NŠchten unter dem Licht von Xenonstrahlern tiefdunkle, gro§formatige
…lbilder malte, lieber als KŸnstler sah, der dann und wann, notgedrungen, einen
Polizisten spielte.
Ich habe dich im Visier, Alex.
Ich treibe dich vor mir her wie ein StŸck Wild. Wenn ich in nicht allzu ferner
Zeit die Anzeige vom Opfertod des Kriminalhauptkommissars Alexander Swoboda im
Dienst der Stadt und an der Gemeinschaft lese, werde ich šffentlich Trauer tragen
wie nicht einmal beim Dahinscheiden meiner Mama. Privat werde ich eine Flasche
Champagner šffnen, keinen billigen, und dazu meine alte Tomaso-Albinoni-Platte
auflegen.
Schon jetzt sehe
ich dich als flŸchtigen Engel. Am Zielpunkt deiner Karriere. Grimmiges Rauschen
in den Ohren, das du fŸr den bleibenden Schaden deines letzten Hšrsturzes
hŠltst. Es ist aber schon, la§ es dir gesagt sein, das seelensaure GerŠusch der
EnttŠuschung. Tinnitus finitus. Die letzten Monate deines Lebens sind meine
Inszenierung, und sie werden die einzig bedeutsame Zeit deines unerheblichen
Erdendaseins sein. Durch mich wird Alexander Swoboda wenigstens die Andeutung
einer Spur hinterlassen, kein gro§es MŠander, nein, aber doch einen Kratzer in
der Geschichte einer Kleinstadt zwischen zwei FlŸssen.
Swoboda!
Ich schreibe dich deinem Ende entgegen. Ausgerechnet du, der meine Begabung in
Zweifel zog, wirst von mir komplett auf den Tod hin gedacht. Ich sehe dich,
Alex! Das Rascheln des trockenen Waldlaubs unter deinen F٤en nimmst du als
Knirschen wahr. Alles verschŠrft sich dir jetzt. Was tue ich hier, bei einem
widerwŠrtigen Toten, hšre ich dich flŸstern, weil du Angst hast, laut zu
sprechen. Was um Himmels Willen tue ich hier bei einer Leiche, um deren wei§e
Haut die Veilchen blŸhen? Warum bin ich nicht Goldschmied geworden oder
Schuster? Die Chance hast du vertan. Zwar krŠftig genug, aber zu spŠt geboren
und, horribile dictu, zu gut in der Schule gewesen, jeder Ehrgeiz hat seinen
Preis... Ein aussterbendes Gewerbe hŠtte gut zu dir gepa§t. Kupferstecher! Malerisch
warst du unter allen SchŸlern der Stadt der weitaus Begabteste. Au§en ein Au§enseiter...
Aber innen eben doch nicht das Zeug zum KŸnstler! Ich wu§te es, der Alex
schafft es nicht in die Boheme! Zu sehr darauf aus, auch als BŸrger zu
reŸssieren! GefallsŸchtig. Deine Mutter lie§ jeden wissen, du seiest
mathematisch glŠnzend; in Latein schwankende Leistungen, in Griechisch
bestŠndigere; deine Abiturrede Ÿber Platons Hšhlengleichnis wurde in der
Zeitung gelobt. Ich werde dich in eine Hšhle treiben, deren Gleichnis dir keine
Zeit fŸr Philosophie lassen wird...
Du verachtest
Zungen an der Nelda. Ich bin hier das ZŸnglein an der Waage. Du bist ein Mann
ohne Lebensfreude. Du grŸ§t mich freundlich, weil du nicht ahnst, da§ ich dein
Mšrder sein werde und in Gedanken schon immer war. Dich, den mit zwei Wassern
gewaschenen Helden meines Beichtbuches, lobe ich, vorausschauend, wie einen
Toten. De mortuis nihil nisi bene.
Als erstes wirst du
die maskierte Leiche finden, die ich dir, wie man HŸhnerkšpfe dem Fuchs in den
Wald streut, zwischen die letzten LeberblŸmchen und ersten Veilchen ausgelegt
habe als Kšder.
ãVieles ist
schrecklich, nichts aber schrecklicher als der Mensch.Ò Haben wir das nicht alle
von Sophokles gelernt, Schulkamerad Alexander?
Ah, welch ein
Spiel!
ãManchmal hasse ich
diese StadtÓ, sagte er leise. Im Herbst flog ihm der Ha§ aus den Nebelschwaden
zu, die von den FlŸssen Mahr und MŸhr und aus der von ihnen gespeisten Nelda
aufstiegen, sich Ÿber der Stadt verdichteten, ihr das Licht stahlen und sie in
Ungewi§heit hŸllten. Dann spiegelte sich der MŠuseturm an der Spitze der
Halbinsel nicht im Wasser, als ob am Grund der Nelda, die schwarz nach Norden
ins Land hinaus flo§, bildfressende Wesen sЧen, fett vom Licht der Vergangenheit
und noch immer unersŠttlich. Die Ÿbrigen Jahreszeiten schienen Swoboda tageweise
ertrŠglich, doch hielt sein Ha§ sich jederzeit in Bereitschaft – sommers,
winters, auch im aufbrechenden FrŸhling wie jetzt, besonders wenn ein Problem
vor ihm lag, das nicht in sein Gehirn drang. Es klemmte sich in seinem Magen
fest. Wer, wenn nicht diese verdammte Stadt, sollte dafŸr verantwortlich sein?
Ihm war schlecht. Aus
der Kopfhaut unter den dichten Haaren trat Schwei§ aus. In einem Bett von
Veilchen, die zwischen den vorjŠhrigen BuchenblŠttern auf dem Waldboden
blŸhten, lag auf dem RŸcken und ausgestreckt die Leiche, mŠnnlich, vollstŠndig
nackt bis auf eine Doppellage PapierkŸchentŸcher zwischen den Beinen. Unendlich
fern war das Gesicht. Es mu§ten mehr als hundert ZimmermannsnŠgel sein, die aus
dem Kopf einen metallenen, stachelstarrenden Visierhelm machten. Die Tatortbeamten
in ihren SchutzanzŸgen und †berschuhen hatten ihre Arbeit getan. Alles war
abgesucht, vermessen, gesichert, fotografiert und gefilmt worden.
Der Tote schien noch
zu frieren, seine Haut war violettbleich und mit verkrustetem Blut
Ÿberschrieben. Das Blut hatte sich Wege gesucht in den Rinnen und Falten des
Kšrpers, war erstarrt und hielt den Leib in einem schwarzen Netz gefangen.
ÒIch habe bisher acht
Stiche gezŠhltÓ, sagte der Arzt leise, der neben dem Oberkšrper kniete, Òund
wie es aussieht, wurde jeder Stich mit einer anderen Klinge gefŸhrt. Es kšnnen
auch noch Stiche im RŸcken sein, ich habe den Toten nicht bewegt.Ó
Dr. Klaus Leybundgut,
als Allgemeiner Arzt in bestem Ruf und von der hiesigen Staatsanwaltschaft von
Fall zu Fall als Rechtsmediziner engagiert, hatte gemeinsam mit Swoboda das
humanistische Gymnasium der Stadt absolviert und war nach den Studienjahren
zurŸckgekehrt, um die Praxis seines frŸh verstorbenen Vaters zu Ÿbernehmen.
ÒSieht irgendwie nach
CŠsar ausÓ, sagte Leybundgut, und weil der neben ihm stehende RŸdiger Tšrring,
Swobodas Assistent und von seinen Kollegen ãTurboÒ genannt, die Stirn runzelte,
fŸgte der Arzt nachsichtig hinzu: ÒDie Iden des MŠrz. †brigens hat man hier,
siehst du, Alex, an der Seite, wo er aufgeschlitzt wurde, hier hat man
vermutlich das Blut aus dem Schnitt durch die Leber zu den Nieren in einem
GefЧ aufgefangen. Da mŸ§te es geradezu gesprudelt haben, aber im Laub ist an
der Stelle kaum was zu sehen. Bin mir fast sicher, da§ die Tat nicht hier
geschehen ist. Zumindest einige Stiche schon woanders. Verwundet hergebracht.
Dann endgŸltig getštet. Oder tot hier abgelegt? Alles mšglich. Ihr werdet hier
abgraben mŸssen. Schade um die Veilchen.Ó Leybundgut sprach mit seiner sanften,
zurŸckhaltenden Stimme, als hŠtte er einen seiner Patienten vor sich.
ãSeine Kleider irgendwo?Ò
fragte Swoboda.
ãBisher nichtÒ, sagte
Turbo, und Leybundgut ergŠnzte: ãIch glaube nicht, da§ sie hier im Wald liegen.
Es gibt keine Verschmierungen. Nur Blutlauf. Er ist nackt erstochen worden und
hat sich kaum bewegt.Ò
Swoboda nickte.
ÒDanke, da§ du mit RŸcksicht auf die Kolleginnen seine Genitalien bedeckt
hast.Ó
ÒDas hŠtte sie nicht
geschockt. Ich habe ihn bedeckt, weil an der Stelle seines GemŠchts ein
blutiges Loch klafft. Man hat ihn entmannt. Alles. Geradezu ausgeschŠlt. Ob vor
oder nach seinem Tod, wei§ ich noch nicht. Ich mu§ jetzt wieder in die Praxis.
Sollte er morgen frŸh freigegeben werden, kriegst du die ersten Daten am
Vormittag. Aber ich bin sicher, die Hauptstadt schnappt ihn sich, der Fall
schreit nach Landeskriminalamt.Ó
Swoboda holte Luft und
wŸrgte seine Frage hervor: ãUnd die NŠgel?Ò
ãNachtrŠglich, nehme
ich an. Keine Blutungen. Entweder war der Tatort sehr kalt, oder der Irre hat
erst Stunden nach dem Todeseintritt sein Opfer – wie soll ich sagen – zugenagelt.
Ich werde das Gesicht freilegen. Etwas so Krankhaftes habe ich bisher weder
gesehen noch darŸber gelesen. Ihr solltet ihn schnell finden.Ò
ãIhn?Ò
ãIhnÒ, sagte
Leybundgut, ãnoch traue ich diese Mischung aus Gewalt und Perversion einer Frau
nicht zu. Freilich, es kšnnten mehrere TŠter gewesen sein.Ò
Er verschlo§ seinen
Untersuchungskoffer, dann sah Swoboda die hagere Gestalt seines Schulfreundes
den Waldhang hinunterlaufen zur Stra§e. Ihm fiel auf, da§ Leybundgut sich nicht
mehr so gerade hielt wie frŸher. Seltsam, da§ man ihm den Witwer ansah. Der
Kommissar atmete tief ein, wandte sich ab und ging seitwŠrts zwischen die
BŠume. Er spŸrte, da§ die Kopfhaut unter seinen Haaren kalt und na§ war. Das
Rascheln des spršden Buchenlaubs kam ihm vor wie das Knirschen von Glas, kleine
€ste knackten unter seinen Schritten laut wie SchŸsse, das Rauschen in seinen
Ohren schwoll zu einem Kesselpfeifen an. Er kannte die
Zeichen des Hšrsturzes. Ihm wurde schwindlig. Obwohl der Tatort von zahlreichen
Kollegen umringt war und unten am Mahr-Uferweg die Blaulichter, Rotlichter und
Gelblichter der Einsatzfahrzeuge ihre unterschiedlichen Rhythmen mischten,
fŸhlte Swoboda, da§ sich eine helle, tonlose Einsamkeit in ihm ausbreitete. Nur
noch das Pfeifen. Er Ÿbergab sich.
WŠhrend seiner
SchwŠche nahm er aus dem Augenwinkel wahr, da§ weiter oben am Hang eine Gestalt
kniete, sich vorbeugte und einen Fotoapparat vors Gesicht hob. Er wandte den
Kopf, die zweite Welle stie§ aus seinem Magen hoch. Die Kamera blitze auf.
Swoboda neigte sich weit nach vorn, aber er hatte seine Schuhe schon bespuckt
und den Fotografen nicht erkannt. Er schlurfte durchs Laub zurŸck und suchte in
den Taschen seines hellen Staubmantels nach einem Kaugummi. An der Gestalt des
Kommissars, die seine Mitarbeiter zwischen den BŠumen hervortreten sahen, fiel
ihnen zuerst der fŸr ihn ungewšhnlich flie§ende Gang auf, dann, da§ sein ganzer
Kšrper, der sonst mit seinen Einsneunundachtzig und durchaus massiger Breite
beeindruckte, seltsam weich geworden zu sein schien und unentschlossen wirkte.
Der Mantel und das hellbraune Cordjackett, das er fast immer trug, hingen
schlaff um ihn herum, sein Gesicht unter den grauen, an den SchlŠfen wei§en Haaren
hatte seine Linien verloren, und die ršmische Strenge, die sich unter den dunklen
Augen sonst um Mund und Nase ausbreitete, wirkte wie aufgelšst in der feucht
glŠnzenden Haut, die immer einen leicht olivbraunen Grundton hatte, jetzt aber
von grŸnlicher BlŠsse war. Ein paar graue Locken klebten an der Stirn, und die
widerborstige FŸlle seines Haupthaars schien sich gefŸgt zu haben.
Es war nach einem
langen Winter der erste Tag, der nach FrŸhling duftete. Die letzte Aprilwoche,
der Himmel wolkenlos. Ein Drittel Kobaltblau, zwei Drittel Kremserwei§, dachte Swoboda. Ein Farbton, der
in seinen Bildern nicht vorkam. Noch hatten die Buchen nicht ausgetrieben, aber
das GrŸn lag schon wie der Vorschein neuen Lebens Ÿber dem Land. Im Sommer gab
es hier am Hang, der vom Mahrufer aufstieg, Waldmeister. Swoboda stellte sich
den Duft vor und versuchte, damit seinen Magen abzulenken, ganz so, wie
Sinzinger es ihm vor fŸnfzig Jahren beigebracht hatte: ÒWenn du kotzen mu§t,
denk nie ans Kotzen. Denk an die Berge, ans Meer, an Rosen, denk an den
Himmel.Ó Diesmal hatte die sonst unfehlbare Methode versagt. Diesmal begann,
ohne da§ es ihm bewu§t gewesen wŠre, ein Fall, der sein Leben mit der
Geschichte der Stadt zwischen den FlŸssen verknŸpfte. An den eigenen Tod dachte
er nicht, und noch spŸrte er nichts von dem Verfolger, der ihn wie einen Fisch
in die Reuse lenkte.
Ich habe oft Ÿber dein Leben
nachgedacht. Du umgibst Dich mit einer Einsamkeit, die Frauen gern fŸr heroisch
halten. Keine Freude. Keine Lust. Aber ich bin sicher, auch einer wie du, auch
so ein unbegrŸndeter Tragiker, lebt wie jedermann geradewegs in den Tag hinein.
Trotz deines, seien wir ehrlich, entsetzlichen Berufs.
Keiner von uns
hŠtte die Begegnung mit dem Tod zu seiner permanenten BeschŠftigung gewŠhlt.
Alex schon. Warum endet einer wie du, der doch TrŠume hatte, Maler werden wollte,
mit ein paar Sternen auf den Schulterklappen? Deine Eltern sind nicht mehr
befragbar, Geschwister gab es nicht. Bist du mir ein RŠtsel, Alexander? Oh
nein, ich bin dir eines, und du wirst es nicht lšsen vor dem Augenblick deines
Todes!
Aber hast du nicht
das GefŸhl, da§ die Berufszeit des Lebens ein Strau§ welker Blumen in einem
Eimer ist? Daneben protzen in Schaufenstern die Sehnsuchtsvasen mit Flieder und
Bougainvillea, KrŸge voller Ginster auf Gartentischen – und du starrst
sie an, als wŠrest du immerzu auf dem falschen Fest eingeladen. Hast du dich
nicht – das schšnfŠrberische Wort fŸr das Ende der Neugier –
abgefunden? Abgefunden! Gibt es einen trostloseren Klang?
Ich sehe dich auf
den Leichnam starren wie einen, der von der KŠlte des fremden Leibs verwundet
wird. Ich spŸre deine Ratlosigkeit. Du leidest unter ihr, ich genie§e sie. Alle
meinen, ich wŸrde nur einen Auftrag erfŸllen. Aber ich habe beim Morden meine
eigene Wonne, falls du das Wort noch kennen solltest: Wonne, einst der beliebteste
Reim auf Sonne,
aber du liest wohl keine Literatur. Die anderen wollen Leute getštet sehen, die
ihnen schaden kšnnten. Ich bin ganz anders. Ich handle aus †berlegenheit. Weil
ich der einzige bin, der das Wunder begreift, da§ Geschichte nie aufhšrt
– und da§ die herrlichsten Grausamkeiten die sind, die die Vergangenheit
korrigieren.
In Zungen an der Nelda breiteten
Nachrichten sich schneller aus als in anderen StŠdten. Vielleicht lag es am
Namen. Es gibt KleinstŠdte mit weniger auffŠlligen Ortsnamen. Manche haben
gleichlautende Zwillingsgemeinden in anderen Landesteilen. Zungen nicht. Zungen
gab es nur einmal auf dem Atlas der Republik, fast das Schlu§wort im Register
des bewohnten Landes. Die FlŸ§chen Mahr und MŸhr mischten ihre Wasser hier zur
schiffbaren Nelda. Wer korrekt sein wollte, sagte und schrieb deshalb: Zungen
an der Nelda.
Zungens BŸrger nannten
sich nicht, wie es die Grammatik verlangte, Zungener und Zungenerinnen, sondern
schenkten sich eine halbe Silbe und fŸgten eine nicht zugehšrige an. Zungerer
hie§en sie, wie die Kreiszeitung in ihrer Kopfzeile tŠglich bewies, Zungerer
Nachrichten, Z.N., so als hie§e der Ort, der ihr als
SpaltenfŸller diente, nicht Zungen, sondern Zunger. Ein unverstŠndlicher
Singular also, obwohl der GrŸnder des Blattes, Karl-Maria Winkels, vor sechzig
Jahren mit Bedacht und von der MilitŠrregierung der amerikanischen Besatzer
lizenziert den Plural der Meinungen auf dem Landzipfel zwischen den FlŸssen
hervorgehoben wissen wollte. Im Stadtwappen lie§ ein Ziegenkopf seine Zunge,
rot im sonst schwarzwei§en Holzschnitt, links aus dem Maul baumeln, was der Zunger
Zick und ihrem
rauhen Lappen ein blšdes, wenn nicht geschlachtetes Aussehen aufzwang und die
Zunge obszšn aus dem Wappenrahmen heraushob.
Seinerzeit hatte man
mit dem nassen Muskel im Mund, au§er bei Lisplern, nichts Anstš§iges verbunden.
Doch mit wachsender Offenheit sexueller Eršrterungen in der Republik lernte
bald jeder Zungerer anzŸgliche Bemerkungen Ÿber seinen Heimatort kennen.
Wer denn Ÿberhaupt bei
Zungen von Heimat reden mochte: Weit Ÿber die HŠlfte der fast FŸnfzigtausend, die hier lebten,
waren Menschen, die sich am Ende des Zweiten Weltkriegs aus Schlesien, Nieder-
wie Oberschlesien, hierher geflŸchtet hatten und ansŠssig geworden waren. FŸr
sie hatte sich der Ort hinter der Prannburg nach SŸden ausgedehnt. In der Folge
war es bald zu Vereinigungen gekommen, in denen die Breslauer sich trafen, die
Oppelner, Kattowitzer, die Glatzer und Neissener, die sich durch die Zungener
Hedwigskirche angenehm an ihre neugotische Jakobuskirche in Neisse erinnert fŸhlten.
Keiner wollte zurŸck ins Polnische, so blieben die Klagen um die verlorene
Heimat frisch, die Volkslieder folgenlos: Wenn ma sunndichs ej da Kerche gehen,
Õs war immera su...
Alexander Swoboda war
aus Bunzlau gekommen. Seine Eltern stammten daher, der Vater Ÿberlebte die
russische Gefangenschaft nicht, die Mutter sehnte sich nicht nach Schlesien
zurŸck, was sie, um unauffŠllig zu bleiben, šffentlich nicht zugeben wollte.
Auch waren in der Familie keine Tšpfer gewesen, sondern Kaufleute in Weizen und
Schrot, hatten die seinerzeit berŸhmten Bunzlauer Dippel weder geordert, noch vertrieben,
waren nicht ursprŸnglich Schlesier, sondern, mŸtterlicherseits aus der
pannonischen Tiefebene, vŠterlicherseits aus Dorpat an der Ostsee eingewandert
– Dorpat mit deutscher UniversitŠt, zeitweise russisch Jurjew, nun zu Estland gehšrig und Tartu genannt, wo der Urgro§vater
im Bernsteinhandel reich geworden war. Mit jeder NamensŠnderung der Stadt war
das Vermšgen gewachsen. Dies Erbe lag Swoboda auf den Schultern, doch nicht
unter den F٤en, denn vom einstigen Reichtum war nichts geblieben, zwei
Weltkriege, eine Inflation, eine Geldumwertung zur Reichsmark, eine zur DM,
eine weitere zum Euro – das Ÿbersteht kein Familienvermšgen. Gold aber,
unwandelbar, hatte sich weder in Dorpat noch in Bunzlau gefunden.
Die Witwe Swoboda
hatte es nicht leicht, ihren immer hungrigen Jungen durchzubringen, fand jedoch
Mitte der FŸnfziger Jahre im Haus Otto Sinzingers, am Aengerlein zwischen
Burgweg und Schwedengasse gegenŸber der Sinzingerschen Brauerei gelegen, eine
Dauerstellung als HaushŠlterin und konnte als solche, mithilfe manch
vorbehaltloser Zuwendung des Hausherren, ihrem Alexander ein Studium ermšglichen.
Sie starb 1964, erst neunundfŸnfzig Jahre alt, langsam, qualvoll und noch in
der Šngstlichen Erwartung, ihr Sohn werde sich als Maler unglŸcklich machen.
Alex, der Schlesier, man hŠtte
dich an der Schule sonst vielleicht Alexander den Gro§en genannt, aber so blieb
der FlŸchtling an dir hŠngen, Schlesier! War dein schlŠjsischer Vattl nich asu
einer vun dar Waffen-SS? Solltest Humanist werden und wurdest Polizist. Ja, die
Gene... Wolltest die Welt retten und wurdest Polizist. Wolltest Maler werden
und wurdest Polizist. Mich habt ihr beschimpft, weil ich nicht mit allen
demonstriert habe in der gro§en achtundsechziger Zeit. Ich bin kein Revoluzzer
geworden. Ich wurde ein Mšrder. Und ein Dichter. Ein Dichter des Mordes... Mir
ist, als ob ich dir im kleinen schwarzen Beichtbuch meiner Taten, in dem ich
JŠger bin und bleibe, ein zweites Leben gebe, um dich zwei Mal tšten zu kšnnen.
Ein PortrŠt, Alex, eines, das ich am Ende, wie Dorian Gray das seine, vernichten
werde!
TanzstundenjŸngling
Alexander Swoboda! Gro§er RollkragenpullitrŠger, schwarze Merinowolle, zu
Weihnachten von UnterklЧlerinnen gestrickt! Breitschultriger Melancholiker!
Dunkle Aura. Dufflecoatkragen hoch und die Augen in den Staub.
Als erster des
Jahrgangs verheiratet, als erster KontaktlinsentrŠger, als erster verwitwet,
kurz zuvor aber als erster geschieden. Deine Frau, ich kannte sie nicht, war
sie schšn? Eure Tochter, die nichts von dir wissen will.
Kriminalhauptkommissar, na und? Angestellt in unserem Ortsnamen, den wir,
folgendem GelŠchter vorbeugend, mšglichst verschwiegen haben, den ich aber inzwischen
gern hšre. Die Topographie immerhin verleugnest auch du nicht: Wir wohnen
šstlich, wo die deutsche Grenze neuerlich ihr Auskommen hat, weil jenseits eine
Art Hoffnung auf Kooperation besteht, eine Ansammlung vergoldeter TŠuschungen,
die nur die Autohuren am GrenzŸbergang nicht teilen. Sie wissen: Der
Winkel ist vergŠnglich. Und wird
neuerlich immer billiger, weil in gro§en WinkelzŸgen die Lustware zunimmt.
Aber damit befa§t
sich ein Alexander Swoboda nicht, er ist auf Kapitalverbrechen spezialisiert!
Obwohl du, soweit mir bekannt, allein lebst und dir Ostfleisch ab und an bestimmt
gut tŠte, ein Auge zugedrŸckt, und die HŠnde von, sagen wir, drei Frauen unterm
Hemd und in der Hose? Nein, ein Swoboda ist unbestechlich und so diszipliniert,
da§ er morgens im Bett bereits an die Lšsung seiner gro§en FŠlle denkt. Oder an
seinen unerotischen Ha§ auf die Stadt.
Wenn du w٤test,
wieviel Grund du hast, Zungen zwischen den FlŸssen zu hassen!
Zwanzig Tage, bevor der Tote im
Mahrwald oberhalb des Flusses frŸhmorgens von einem Jogger aufgefunden wurde
und der Zustand des Leichnams zu Spekulationen Anla§ gab, hatte im Hotel Korn eine Feier im engen Kreis stattgefunden.
In den PrivatrŠumen
von Klara Matt, wo die Eignerin des Hotels Korn mit ihrer Tochter Ilse Matt und
ihrer Enkelin Martina unaufwendig, aber gediegen lebte, hatten sich drei MŠnner
eingefunden, denen nicht nur ihr hohes Alter gemeinsam war. Sie kannten
einander wie auch Klara seit frŸher Jugend. Die Zimmerflucht mit Eichenmobiliar
der Sechziger Jahre befand sich in der ersten Etage des Hotels, das vierstšckig
hinter dem Kornmarkt am westlichen Landeck lag, wo unter den Fenstern die MŸhr
zur Nelda wurde.
Klara, an der neben der frischen,
lilawei§en Dauerwelle ihr lippenlos zusammengepre§ter Mund, ihre graue
Gesichtsfarbe und ein leichter Hšcker zwischen den SchulterblŠttern auffielen,
war mit achtundachtzig die JŸngste im Kreis, gefolgt von ihrem einstigen,
untreuen Geliebten Otto Sinzinger, Ehrenvorstandsvorsitzender der ZickerbrŠu (Zickerpils,
Zickerdunkel, Zickerbock, Zickerwei§e) der neunundachtzig Jahre zŠhlte, seinen kantigen, mit
rotblanker Haut bespannten SchŠdel aufgerichtet trug und sich trotz seiner
deutlichen Rundleibigkeit tadellos gerade hielt; ein Mann, der seine Selbstgewi§heit
wie eine Prozessionsfahne vor sich hertrug.
Ihm folgte der
GrŸnder, Besitzer und Herausgeber der Tageszeitung Zungerer Nachrichten, Karl-Maria Winkels,
vierundneunzig, mager und gewunden, ein kšrperliches Krummholz mit gelblichem,
nacktem Kopf, nicht wirklich gehbehindert, der Bequemlichkeit halber aber von
seinem, im Gegensatz zum Vater straff und muskulšs wirkenden Sohn Volker
Winkels – mit seinen neunundfŸnfzig Jahren ein Knabe unter den Greisen
– im Rollstuhl hereingeschoben. Dann der ebenfalls vierundneunzigjŠhrige,
ungleich rŸstigere Willy Ungureith, noch immer einsachtundachtzig gro§, die
Schultern breit und ohne Seitenneigung, unter dem wei§en Haupthaar ein Gesicht,
das zwar von zahlreichen dŸnnen blauen €derchen wie tŠtowiert war, doch seinen
Herrscherblick von einem Schiffsbug aus in fremde Fernen zu richten schien. Der
in allen Lebensphasen von sich selbst bevorzugte Mann hatte die GeschŠfte seines
Fleischgro§handels und Wurstkonservenbetriebs (Fleisch und Wild von
Ungureith – Hochgenu§ und Haltbarkeit) schon vor Jahren seiner allein lebenden Tochter
Liesel Ÿbergeben.
Volker Winkels,
Chefredakteur im Blatt seines Vaters, war gebeten worden, das Zimmer zu verlassen,
dann hatte Klara Matt das Wort ergriffen: ãWer etwas trinken mšchte, Martina
wird es bringen, es gibt Mineralwasser oder Tee, wir brauchen klare Gedanken.Ò
Bedeutsam an diesem
Treffen, das als verspŠtete Geburtstagsfeier fŸr Otto Sinzinger ausgegeben
worden war, war nicht die Tatsache, da§ Karl-Maria Winkels aus seinem Rollstuhl
heraus sofort gebieterisch einen doppelten Espresso und einen Grappa verlangt
und erhalten hatte, sondern da§ der alte ZeitungsgrŸnder energisch sein Veto
gegen im GesprŠch aufkommende Gedankenspiele eingelegt und noch am Abend seinem
Sohn Volker empšrt berichtet hatte, da§ nicht mehr und nicht weniger zur
Debatte gestanden habe als eine Verabredung zum Schutz der Gegenwart vor der
Vergangenheit.
ãUnd das von diesen
Kerlen, die alle mit einem Fu§ im Grab stehen wie ich. Statt da§ sie den Dingen
ihren Lauf lassen! Du wei§t, ich habe nichts zu verbergen. Ich habe damals dem
Staff und seiner Gemeinde sogar den Platz am Judenwinkel samt der Synagoge
abgekauft, damit er ihnen nicht weggenommen wurde! Was hab ich davon gehabt?
Judenfreundliches Verhalten hat die Gestapo mir vorgeworfen! Nach dem Feuer im
November dann die Enteignung! Ich habe viel riskiert! WŠhrend Otto und Willy in
der schwarzen Uniform rumstolziert sind und Klara Matt sich von Otto ihren
SS-Bankert Ilse hat anhŠngen lassen! Die mŸssen mir nichts erzŠhlen, ich wei§ alles
Ÿber sie!Ò
Der Sohn, der nicht
nur die Rechtfertigungen seines Vaters, sondern auch dessen nŸtzliches Wissen
von der Vergangenheit bedeutender Zungerer auswendig kannte, hob sein Glas.
ãDennoch hei§t der Judenwinkel heute Alter Winkel, und auf dem Grund der
Synagoge steht unser schšner Zeitungsbau. Ist das nicht wunderbar? Irgendwann
wird man den Alten Winkel nach dir in Winkelsstra§e umbenennen, und keiner wird
sich mehr erinnern an den ursprŸnglichen Winkelnamen.Ò
ãWas mir die Nazis
weggenommen hatten, mu§ten mir die Demokraten wiedergeben, das war nur nach
Recht und Gesetz.Ò Auch diesen Satz hatte der Sohn erwartet. Karl-Maria Winkels
schob das Glas auf dem Tischchen neben seinem Rollstuhl zur Seite. ãWo hast du
nur den lausigen Burgunder her? Gib mir einen Cognac.Ò
Die beiden MŠnner
sa§en sich am Kamin gegenŸber, Volker Winkels hatte des kalten
VorfrŸhlingstages wegen Feuer gemacht im Salon der Villa, jenem GrŸnderzeithaus
im Park hinter der Prannburg, das einst dem Brauereibesitzer Leo Staff und
seiner Familie gehšrt hatte.
Sie prosteten einander
zu: Vater und Sohn – doch so verschieden in Kšrper und Wesen, da§ man sie
nicht nur nach Generationsmustern, sondern auch hinsichtlich ihrer
Lebensauffassung fŸr Menschen unterschiedlicher Kulturkreise halten mu§te.
Hatte der Vater noch unter Befolgung von Anstandsregeln, wenn auch mit List und
LebenslŸgen, sein Vermšgen erwirtschaftet und es mit preu§ischer Sparsamkeit in
Dingen des eigenen Bedarfs erhalten, so war sein Sohn – schon als
Gymnasiast reicher ausgestattet als die anderen – ein Lebenskonsument
amerikanischer PrŠgung geworden; sein Faible fŸr auffŠllige Autos, Ma§anzŸge,
in Budapest nach seinem Leisten handgefertigte Schuhe und teure Uhren war
stadtbekannt. Unbekannt war, womit er den Aufwand bezahlte, der ihn glŸcklich
sein lie§; weder sein Gehalt als Chefredakteur der vŠterlichen Zeitung noch das
Vermšgen des Vaters – wenn es denn Ÿberhaupt noch verfŸgbar war –
konnten die Finanzierung seiner luxurišsen Eskapaden plausibel begrŸnden.
Karl-Maria Winkels hatte sich abgewšhnt, nachzufragen, hielt aber das Leben
seines Sohnes nicht nur fŸr unangemessen, sondern fŸr unsittlich und versuchte
vergebens, spŠt noch durch kritische EinwŠnde Erziehungsziele zu verwirklichen,
die er frŸh einzufordern unterlassen hatte. Nach dem Tod der Mutter hatte er
das Kind, weil die Karriere nicht Zeit zu anderem lie§, bis an die Grenze der
Wohlstandsverwahrlosung mit Geschenken umstellt.
In dieser Nacht kam es
zwischen beiden zum Streit Ÿber die unter sorgsamer Umgehung von Beispielen
diskutierte Frage, ob die Gegenwart sich von der Vergangenheit belehren und
verŠndern lassen mŸsse oder nicht. Nein, meinte der Sohn, denn alles Recht
gelte der Zukunft, deren Gestalt in der Gegenwart angelegt werde. Unbedingt,
entgegnete der Vater, denn nur in der Vergangenheit lasse sich Zukunft erkennen,
die Gegenwart sei immer blind. Darauf der Sohn: Wahrheit sei vergŠnglich, der
Vater dagegen, sie sei zeitlos und werde sich immer durchsetzen – wonach
er, Šu§erst erregt, das GesprŠch abbrach und von der in der Bibliothek nebenan
wartenden Pflegebegleiterin, der im Haus wohnenden Irmela Schuldenzucker, zu
Bett gebracht werden wollte. In derselben Nacht erlag er gegen drei Uhr einem
Hirnschlag, der vielleicht dem Zusammenwirken von Espresso, €rger, Cognac und
Aufregung Ÿber die plštzlich in die Gegenwart herŸberwachsende Vergangenheit geschuldet
war – gewi§ aber nicht in aussichtsreicher Frist erkannt und behandelt
wurde, denn der Sohn hatte keinen eiligen Eifer bekundet, den Notarzt zu rufen.
Der Nachruf auf der
halben Frontseite der Z.N. war hingegen erstaunlich schnell erschienen und hatte zur
Vermutung Anla§ gegeben, Chefredakteur Volker Winkels habe den Abgesang auf
seinen Vater schon seit Jahren im Computer bereitgehalten.
Er stattete das
BegrŠbnis an einem kalten, klaren Apriltag so pompšs mit roten Rosen und wei§en
Lilien aus, da§ einige BŸrger den Korso geschmacklos und unangemessen fanden
und munkelten, der Sohn, einziger Erbe der Zeitung, der einstigen Staff-Villa
und vermuteter RŸcklagen, mache am toten Vater gut, was er am lebenden versŠumt
habe. In den Grabreden zweier StadtrŠte, eines halbhohen FunktionŠrs des
Zeitungsverlegerverbandes, sowie des OberbŸrgermeisters Heinz Ehrlicher wurde
Winkels zum Wahrer der Wortfreiheit erhoben und rŸckblickend zum KŠmpfer fŸr das Gute in
dunkler Zeit; die
Dunkle Zeit
war in Zungen an der Nelda das Synonym fŸr zwšlf Jahre Nationalsozialismus.
Otto Sinzinger, leicht gebeugt, weil er meinte, es gehšre sich so am
Grabesrand, nannte den Verblichenen Vorbild des Widerstands, was sich im Mund des einstigen
SS-Mannes so gut ausmachte wie eine Hostie im Maul des Leviathan.
Klara Matt stand,
kleiner als sonst, fahl und frierend, an der Hand ihrer Tochter Ilse am Grab
und schwieg. Willy Ungureith, die Gemeinde Ÿberragend, blickte erleichtert Ÿber
den Tod eines Wissenden aus der dunklen Zeit in den strahlenden Himmel, und
der Erbe Volker, in einem unŸbersehbar teuren Ma§anzug unter dem offenen
schwarzen Kaschmirmantel, rief dem Vater nach: ãDank! Dank, geliebter Vater,
gro§er Mann! Alles, was ich kann und bin, habe ich von dir! In deinem Geiste
fahre ich fort in deinem Werk.Ò
Wer es hšrte, glaubte
es nicht, auch wenn das Trauervibrato in der Brust des Sohnes an der offenen
Grube nach echter Bewegtheit klang und ihm beim Beginn der Rede eine dunkle
Haarlocke vor die Stirn gefallen war. Man wu§te zu gut, da§ er in allem das
Gegenteil des Verstorbenen war. Seine angeberische Verschwendung nahmen ihm
wenige Ÿbel, bei vielen aber galt er als opportunistisch und verschlagen. Sein
gedrungener, fŸr einen fast SechzigjŠhrigen straffer und wendiger Kšrper hatte
etwas Frettchenhaftes, dem rassistisch denkende BŸrger klammheimlich ãZigeunerartÒ
unterstellten und sich dies mit seinem krŠftigen, schwarzen Haar zusammenreimten.
War denn nicht auch die Herkunft seiner Mutter in der Stadt unbekannt gewesen?
Es hie§, von zwei Worten, die er sagte, seien drei gelogen, und das einzige,
was er ehrlich und ernsthaft betreibe, seien zwei Stunden Kšrpertraining
dreimal pro Woche im Keller der Villa, wo er sich einen Raum zur Erhaltung der
Fitne§ hatte einrichten lassen.
Auch an dem Tag, an
dem sein Vater zur letzten Ruhe gebettet worden war, stieg Volker Winkels am
frŸhen Abend in der Villa, die nun ihm allein gehšrte, zu den muskelbildenden
Maschinen hinunter. Sein Gesicht war entspannt, der leicht vorstehenden oberen
SchneidezŠhne wegen schien es immer zu lŠcheln. Diesmal strahlte er vor
Zufriedenheit. Das Haus, so schien ihm, fŸhlte sich anders an, es klang anders,
es umgab ihn mit einer neuen SelbstverstŠndlichkeit. Einst hatte es Leo Staff
gehšrt. Dann seinem Vater Karl-Maria Winkels. Beide waren tot. Vergangenes
Leben. Ihm gehšrte die Gegenwart.